Auch die letzte Unterrichtsstunde an diesem Tag hatten Timo und ich gemeinsam. Ich spürte, wie er mich leicht mit seiner Fußspitze an meiner Wade berührte. Irritiert sah ich zu ihm. Dann machte er mir mit einem Kopfnicken klar, dass ich aus dem Fenster schauen sollte.

Sofort begann mein 5-jähriges Ich in mich zu erwachen.

"Es schneit!", flüsterte ich erfreut und sah zu, wie große Flocken wie von Magie getrieben auf den Boden sanken. "Endlich!" Schon seit Wochen war es eiskalt gewesen, doch Schnee war zu meinem Bedauern nie in Sicht gewesen.

"Schneeballschlacht nach Schulende?", fragte er mich mit seinem breiten und noch sehr jungenhaften Grinsen. Timo hatte ein so offenes und freundliches Gesicht, sodass man ihn nicht nicht mögen konnte. Er war ein Sunnyboy, nur ohne blonde Haare und ohne gebräunte Haut.

"Gerne! Falls bis dann genug Schnee liegt!"
Wir konnten uns beide nicht mehr auf den Unterricht konzentrieren. Stattdessen verfolgten unsere Augen den Schneefall, der immer heftiger wurde. Keiner schien mehr unserem Mathematiklehrer zuzuhören. Alle waren in den Bann der Schneeflocken gezogen.

"Ich sehe schon. Es hat kein Sinn mehr", sagte schließlich auch unser Lehrer resigniert. "Aber immerhin freut es mich, dass ihr euch noch an so etwas wie Schnee erfreuen könnt und wenigstens für einen Augenblick die Natur genießt." Er seufzte. "Na los! Geht schon raus! Für heute machen wir Schluss. Aber passt auf, dass ihr nicht wegrutscht und keine Schneeballschlachten auf dem Schulgelände!"

Kaum hatte er diesen Satz ausgesprochen, waren alle von ihren Plätzen aufgesprungen, hatten sich ihre Jacken übergeworfen und waren mit den Rucksäcken über der Schulter aus dem Klassenraum getürmt.

Mittlerweile hatte sich eine durchaus brauchbare Schneeschicht auf dem Boden angesammelt. Ich hatte das Schulgelände noch nicht verlassen, doch ich konnte nicht widerstehen einen ersten Schneeball zu formen. Meine Hände wurden schlagartig kalt, doch das war mir der Spaß wert. Ich warf den Ball in Richtung Timo und traf ihn prompt im Gesicht. Volltreffer!

"Hey!", beschwerte er sich und wischte sich die weiße Eismasse aus seinem Gesicht.

Erst jetzt bemerkte ich, dass ich ihn nur im Gesicht hatte treffen können, weil sein Blick auf der neuen Schülerin geruht hatte und er dadurch abgelenkt gewesen war. Wieder sah er zu ihr, um sicherzustellen, dass sie nicht gesehen hatte, wie ich ihn getroffen hatte. Vielleicht sollte ich ihn einfach erlösen.
"Sie hat es dir ja ganz schön angetan", zog ich ihn auf.
"So ein Quatsch", entgegnete er sofort und rannte auf mich zu um mir Schnee ins Gesicht zu drücken. Wir fielen auf den rutschigen Untergrund zu Boden.

"Nicht auf dem Schulgelände!", rief Herr Meyer wütend. "Das ist der Dank dafür, dass ich euch früher Schluss gegeben habe! Geht noch 10 Meter und dann könnt ihr tun und lassen, was ihr wollt! Aber nicht hier!"

Ich rieb mir meine Hüfte, die sehr bald von einem Bluterguss verziert sein würde.

"Autsch!", jammerte ich.

Sofort zog Timo mich mit hoch.

"Alles in Ordnung bei dir?", fragte er wie immer fürsorglich. Ich war für ihn, wie die kleine Schwester, die er nicht hatte.

Ich nickte und sah zu, wie das neue Mädchen grazil vor uns das Schulgelände verließ. Wie konnte man bei diesem Glatteis nur so elegant laufen? Auch Timo entging dieses Talent nicht. Ich entschloss mich dazu, dass es Zeit war den beiden die Herzen füreinander zu öffnen.

Als Amora hatte ich weder einen Bogen noch richtige Pfeile. Mein Dasein hatte generell sehr wenig mit dem zu tun, was die Menschen mit Amor verbanden. Ich war keine Engel, hatte keine Flügel und war auch kein Baby.

Stattdessen streckte ich meine Hand mit der Handfläche nach oben aus. Tatsächlich erinnerte meine Vorgehensweise eher Spiderman, denn meine Pfeile, die nur aus einem feinen Nebel und für Menschen weder sicht- noch fühlbar waren, schossen aus meinem Handgelenk.

Ich konnte spüren, wie sich Wärme und Macht in meiner Hand bildete. Es war für mich stets ein purer Glücksmoment zwei Menschen zusammenzubringen. Und wenn es dann auch noch der beste Freund war, umso besser. Niemanden gönnte ich die große LIebe mehr, als meinem besten Freund.

Ich fühlte mich bereit und schoss den ersten Pfeil in Richtung Timo. Dieser wurde auch wie geplant in der Brust getroffen. Seinem Gesicht sah ich an, dass er nichts davon mitbekommen hatte. Er würde erst etwas spüren, wenn auch sie vom Pfeil getroffen wurde.

Die Neue stand nur wenige Meter entfernt. Sicherheitshalber ging ich noch ein paar Schritte auf sie zu, um sie nicht zu verfehlen.

"Wo gehst du hin?", hörte ich Timo irritiert fragen.

"Warte kurz!", ließ ich ihn wissen und konzentrierte mich wieder auf die Pfeilproduktion.

Ein Kribbeln breitete sich auf meinem gesamten Körper aus. Ein Druck baute sich auf und ich wusste, dass er gleich aus meinem Handgelenk herausschießen würde. Doch plötzlich traf mich etwas Hartes am Hinterkopf. Ich geriet ins Straucheln und fiel unkontrolliert zu Boden. Doch noch schlimmer: Im Moment des Fallens löste sich der Pfeil.

Und traf mich selbst.

AmoraWhere stories live. Discover now