Belle
Das Herz klopfte mir bis zum Hals als wir tatsächlich diese Baracke betraten, die er Zuhause nannte. Augenblicklich hielt ich Ausschau nach einer geeigneten Waffe und fand nur die Vase, die auf einem kleinen Tisch neben dem Bett stand. Auf ... auf dieser dünnen Matratze schlief er?
»Du kannst fürs Erste die hier anziehen.« Ich hatte gar nicht bemerkt, dass er eine Jogginghose und einen langärmligen Pullover aus seinem kleinen Schrank gezogen hatte und sie mir nun entgegenhielt. Misstrauisch schweifte mein Blick von den Klamotten zu ihm. Was sollte diese plötzliche Freundlichkeit? Was wollte er von mir? Warum hatte er mich zu sich nachhause genommen?
Ganz falsche Gedanken schwirrten in meinem Kopf und ließen mich schwitzen. Mir wurde ganz übel.
Augenverdrehend drückte er sie mir nun gegen die Brust, weswegen ich sie nun an mich nehmen musste. »Im Bad kannst du dich ein wenig sauber machen und dich umziehen.«, zeigte er auf eine Tür, die mir gar nicht aufgefallen war.
Ich zögerte kurz, aber nickte dann wortlos. Schweigend öffnete ich die Tür und trat ins andere Zimmer. Hinter mir machte ich die Tür wieder zu, aber ich konnte zu meinem Entsetzen nicht absperren. Frustriert ließ ich meinen Kopf gegen die Tür fallen und atmete tief aus. Ich schloss die Augen und atmete immer wieder tief durch, um nicht jeden Moment los zu weinen.
Als ich mich so weit hatte, ging ich zum kleinen Waschbecken und wusch mir das Putzmittel aus den Haaren, entledigte mich bis auf meine Unterwäsche meiner Klamotten, wobei mein Blick immer wieder zur Tür schweifte. Mit einem Handtuch, das ich auf der hölzernen Kommode entdeckte, machte ich mich sauber und legte diesen anschließend wieder nass weg. Normalerweise wäre ich wohl überrascht, dass er ein eigenes Bad besaß, aber als Anführer konnte er sich wohl mehr leisten. Als ich einigermaßen trocken war, zog ich mir den dünnen Pullover von Jack über und schlüpfte in die viel zu große Hose. Ich konnte sie vorne zuschnüren, deswegen war es nur halb so wild. Sofort fühlte ich mich wohler als die Wärme des Stoffs meine Haut berührte. Das Zittern blieb weiterhin bestehen, aber jetzt wusste ich wenigstens, dass es nicht an der Kälte lag. Jacks Geruch stieg mir in die Nase und ich hätte erwartet, dass es stinken würde, aber zu meiner Überraschung roch er sogar gut.
Fertig betrachtete ich mich im Spiegel. Mein Erscheinungsbild litt wie noch nie zuvor. Dunkle Ringe hatten sich unter meinen Augen gebildet, meine Haare fielen nass und glanzlos auf meine Schultern, die kraftlos hingen. Ich wirkte in diesem übergroßen Pulli kleiner als ich eigentlich mit 1,65 m war. Ich sah mir in die roten Augen. Wie hatte ich es erlaubt, dass man mich wie Dreck behandelte?
Gerade wollte ich zurück in das andere Zimmer gehen, da hielt ich vor der Tür inne und erlaubte mir noch einen Moment der Einsamkeit.
In meinem inneren Auge spielte sich die Szene mit Layla wieder ab. Wie sie mich erst wütend anfuhr, weil ich eine ganze Flasche mit Waschmittel für nur zwei Hosen aufgebraucht hatte, und dann wie sie mich ins Wasser schubste, weil ich sie aus Versehen mit dem nassen Oberteil in meiner Hand erwischt hatte. Ich sah mir meinen Arm an, der noch rot gefleckt war. Wie ein gefühlsloser Roboter, hatte sie Pulver, das man für die Reinigung von Jeans benutzte, über mich geschüttet und mit einem Lappen auf meine Haare und Haut gerieben. Das noch Schlimmere an dem Ganzen war allerdings, dass es sich vor den Augen der Anderen abspielte und niemand sich getraut hatte sich ihr zu widersetzen. Ich sah doch das Entsetzen in ihren Augen...
Ich hatte geschrien, ich hatte mich anfangs gewehrt, doch als die Farblose es tatsächlich auch schaffte mir Sand in die Augen zu schleudern, verlor ich. Mit schwacher Sehkraft hatte ich keine Energie mehr mich weiter zu wehren. Da packte sie mich an den Haaren und drückte meinen Kopf in den See. Für einen winzigen Moment hatte ich gedacht sie wollte mich ertrinken, da eilte Mia mir zur Hilfe. Sie entschuldigte sich für mein „Fehlverhalten" und bat Layla freundlich mir zu vergeben. Mein Charakter strebte sich gegen solch eine Unterordnung, aber ich hielt den Mund und rang stattdessen nach Luft.
Stumm liefen mir Tränen über das Gesicht und ich schluchzte in meinen Ellbogen, damit Jack nicht mitbekam wie schwach ich eigentlich war. Ich lies mich an der Tür runter gleiten und erlaubte es mir für eine Minute meine Fassade fallen zu lassen. Ich konnte einfach nicht mehr. Das alles war mir zu viel!
Wenn du ein leichtes Leben hier führen möchtest, musst du dich mir anpassen. Widersprich mir nicht und behalte alles für dich. Ich hatte widerwillig genickt gehabt, doch im Geiste ging ich alle Szenarien durch, die ich ihr antun würde, sobald mein Vater hier erst einmal mit einer ganzen Truppe aufkreuzte.
Es brannte nicht nur meine Haut, sondern auch mein Herz. Es zog sich schmerzhaft zusammen und schlug mir in den Ohren. Es war mein erster richtiger Tag im schwarzen Viertel und ich hatte es von vorne bis hinten vermasselt. Sie hatte bestimmt gemerkt, dass ich keinerlei Ahnung von Wäsche waschen hatte... Ob Jack mich deswegen noch genauer unter die Lupe nahm?
Mit meinem Ärmel tupfte ich meine Tränen trocken. Verzweifelt klammerte ich mich an den Gedanken fest, dass Dad mich niemals aufgeben würde. Bis dahin musste ich nur überleben. Mehr nicht! Wie schwer konnte es schon sein, sich für ein paar Tage zu fügen? Ich durfte lediglich nicht negativ auffallen.
Ein letztes Mal atmete ich durch und blinzelte alle Tränen weg. Ich setzte eine gleichgültige Miene auf ehe ich raustrat. Jack richtete sich von seinem Bett auf und blickte mich komisch von oben bis unten an. »Wieso hat es so lange gedauert?«
»Ich war bis auf die Knochen nass«, antwortete ich möglichst monoton, versuchte meine Emotionen tief hinter einer starken Fassade zu verstecken.
Jack spannte für einige Sekunden die Kiefer an, fast so als müsste er sich zusammenreißen. Dann schloss er kurz die Augen, öffnete sie wieder und rang sich ein halbes Lächeln ab, das ich ihm nicht abkaufte. Wieso bemühte er sich überhaupt? »Wie kam es denn überhaupt dazu?«
Ungewollt lachte ich auf. »Interessiert dich das wirklich?« Meine Stimme triefte nur so von Hass.
Layla konnte kein Herz besitzen, sie konnte kein Mensch sein. Sie sah meine Verletzung an den Beinen und dennoch tat sie mir das alles an. Ich hatte all das nicht verdient. Innerhalb weniger Tage hatte ich mir die Beine aufgeschürft, wurde eingesperrt und wurde fast in einem dreckigen See ertränkt.
Ob sie Mia wohl auch so abscheulich behandelten?
»Layla macht nur ihre Arbeit.«, lautete Jacks Kommentar. Und es überraschte mich keineswegs. Sie waren beide Farblose. Die grundlegenden Menschenrechte kannten sie nicht oder - noch schlimmer - sie kannten sie und missachteten sie absichtlich. Was konnte man von Farblosen groß erwarten? »Und es wird dir hier nicht besser gehen, wenn du nicht anfängst dich an die Regeln zu halten.«
Ich musste mich stark zusammenreißen, um jetzt bloß keinen falschen Kommentar abzugeben.
Ich durfte Jack auf keinen Fall vertrauen, aber ich musste ihn dazu kriegen mir zu vertrauen. Das war meine einzige Chance das Ganze halbwegs unversehrt zu überleben.
»Du hattest einen langen Tag, du solltest schlafen gehen.« Er stand auf und deutete auf sein Bett, weswegen bei mir alle Alarmglocken anfingen zu schrillen. Genau davor hatte ich mich seit der Begegnung gefürchtet! Ich nahm augenblicklich Abstand und hielt Ausschau nach der Vase. »Beruhig dich!«, hob Jack achtsam seine Hände. »Ich bin kein Perverser! Du kannst auf dem Bett schlafen, ich werde auf der Couch pennen.«
Das Herz schlug mir bis zum Hals. »Das würde ein Perverser auch sagen.«
Ungeduldig stieß er Luft aus. »Du musst leider lernen mir zu vertrauen, denn ich kann dich nicht alleine lassen. Ich vertraue dir nicht.«
Meine Augen formten sich zu Schlitzen. »Wieso schlafe ich heute überhaupt hier? Was ist mir der Frauenhütte?«
Jack zuckte die Achseln. »Dort kannst du morgen schlafen.«
»Das beantwortet nicht meine Frage...« Ich hatte Angst, aber gab mein Bestes, es nicht an mich ranzulassen. Die Angst durfte nicht die Kontrolle über meinen Körper übernehmen. »Ich vertraue dir nicht.«, sagte ich schließlich ehrlich.
Nach einer kurzen Pause der Stille fügte ich hinzu: »Ich will dafür diese Vase für meine Sicherheit bei mir behalten«, zeigte ich auf das Gefäß auf dem Tisch.
»Okay. Nur muss ich mich jetzt darauf verlassen können, dass du mich nicht während dem Schlafen abmurkst.«
Unschuldig zuckte ich die Schultern. »Dann solltest du mit einem offenen Auge schlafen.«
Unglaubwürdig klappte seine Kinnlade kurz auf. Doch er fasste sich schnell wieder. »Eine Vase kann mir nichts anhaben, aber - nur falls du es tatsächlich versuchen solltest - so einen Fehler bestrafe ich mit dem Tod.« Seine Augen waren ernster denn je.
Ich glaubte ihm und ich war nicht so dumm es tatsächlich zu versuchen. Außerdem hatte ich nicht vor irgendwen zu ermorden. Auf ihr Niveau sank ich nicht. Im Gegensatz zu ihnen würde mich ein schlechtes Gewissen für den Rest meines Lebens plagen.
Ich räusperte mich. »Na gut, d-dann geh mir aus dem Weg. Ich möchte schlafen.« Meine Haltung blieb stets auf der Hut.