Die Gouvernante

By MissOpenBook

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Ein junger Baron. Ein uneheliches Mädchen. Die Chance auf eine neue Zukunft. Esther Griffel ist aus Calia ver... More

Vorwort
Prolog - Martha
Kapitel 1 - Orland
Kapitel 2 - Esther
Kapitel 3 - Orland
Kapitel 4 - Esther
Kapitel 5 - Orland
Kapitel 6 - Esther
Kapitel 7 - Orland
Kapitel 8 - Orland
Kapitel 9 - Esther
Kapitel 10 - Esther
Kapitel 11 - Esther
Kapitel 12 - Orland
Kapitel 13 - Esther
Kapitel 14 - Esther
Kapitel 15 - Orland
Kapitel 16 - Esther
Kapitel 17 - Esther
Kapitel 18 - Orland
Kapitel 19 - Esther
Kapitel 20 - Orland
Kapitel 21 - Esther
Kapitel 22 - Esther
Kapitel 24 - Esther
Kapitel 25 - Esther
Kapitel 26 - Esther
Kapitel 27 - Esther
Kapitel 28 - Orland
Kapitel 29 - Esther
Kapitel 30 - Orland
Kapitel 31 - Orland
Kapitel 32 - Esther
Kapitel 33 - Esther
Kapitel 34 - Orland
Kapitel 35 - Orland
Kapitel 36 - Esther
Kapitel 37 - Orland
Kapitel 38 - Esther
Kapitel 39 - Orland
Kapitel 40 - Orland
Kapitel 41 - Esther
Kapitel 42 - Orland
Kapitel 43 - Esther
Kapitel 44 - Orland
Kapitel 45 - Esther
Epilog - Martha
Nachwort

Kapitel 23 - Orland

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By MissOpenBook

Esther tritt zögerlich ein. Sie ist schon so oft in meinem Arbeitszimmer mit mir allein gewesen, doch jetzt ist es anders. Nicht nur für sie, auch für mich. Jetzt teilen wir ein Geheimnis, jetzt habe ich einmal die Chance, mich von meiner besten Seite zu zeigen. Eine Chance, mit der ich nicht wirklich gerechnet hatte.

Als Kasimir vorschlug, sie zum Essen dazu zu laden, hielt ich es für die Lösung. Schließlich lernt man sich erst richtig kennen, wenn der Alltag sich überschneidet. Und dann fing sie an, sich zurückzuziehen, wann immer ich einen Schritt auf sie zumachte. Ich wollte mit den Zeitungsartikeln, die ich ihr zeigte, eine Grundlage für lange Gespräche schaffen. Ich wollte ihre klugen Gedanken zu einem Thema hören, dem ich zweifelnd gegenüberstand. Und doch bekam ich nur das Gefühl, sie zu den gemeinsamen Abendessen gedrängt zu haben. In mir manifestierte sich die Angst, dass ihre guten Manieren sie dazu gebracht hatten, zuzusagen, um mich nicht vor den Kopf zu stoßen.

Und dann gestern Nacht unsere Begegnung in der Bibliothek. Ich erinnere mich an den einen Abend in meinem Arbeitszimmer, als sie auf mich wartete, um mir mein schändliches Verhalten vor Augen zu führen. Es war der Abend, an dem ich mich ihr erstmalig öffnen konnte und meine Widerstände über Bord warf. Und solch ein Moment ist es in der vergangenen Nacht auch gewesen.

Aus irgendeinem Grund werde ich das Gefühl nicht los, dass Esther innerlich etwas mit sich herumträgt, was sie sehr belastet. Jeder Mensch hat solche Erinnerungen. Meine ist die gelöste Verlobung, die ich erst loslassen konnte, als ich ihr begegnet bin. Doch ich befürchte, dass es bei ihr weitaus schwieriger ist.

Sie macht Andeutungen, verstreut sie wie kleine Puzzleteile. Diese Ausschnitte aus ihrem Leben als Hofdame, die sie neulich beim Dinner erzählte, haben mich überrascht. Ich dachte, sie wäre in ihrer Rolle am calischen Hof aufgegangen, hätte ihren Status genossen, wäre dort die selbstbewusste Frau gewesen, als die ich sie kenne. Doch stattdessen bekommt sie diesen gequälten Gesichtsausdruck, wenn sie von ihrer Vergangenheit spricht, meint, dass es dort keinen Platz mehr für sie gegeben hätte, obwohl sie sieben Jahre Hofdame gewesen ist.

Kurz bevor Kasimir wieder wegfuhr, fragte er mich, ob er der Sache auf den Grund gehen solle. Zwar vertraut er ihr, wie ich es tue, doch er macht sich Gedanken, dass sie vielleicht Hilfe brauchen könnte von jemandem, der weiß, was geschehen ist.

Ich habe beschlossen, nicht nachzuforschen. Ich verurteile niemanden für seine Geheimnisse und ich würde mich nicht wohl dabei fühlen, ihr Vertrauen zu missbrauchen. Denn das ist es, was ich dabei bin, mir zu erarbeiten.

In der vergangenen Nacht hat sie sich vor mir eine massive Schwäche eingestanden. Sie stand vor mir mit verstrubbelten Haaren und im Nachthemd, hat offen geweint und zugelassen, dass ich ihr helfe. Und das macht sie für mich zu einer starken Frau. Das macht sie für mich schön und liebenswert. Das gibt mir die Möglichkeit, ihr zu helfen, so wie sie mir mit Annalies geholfen hat.
Ich rücke ihr den Stuhl hinter dem Schreibtisch zurecht, auf dem ich sonst sitze. Sie schaut mich unsicher an. „Sind Sie sicher, dass Sie nicht dort sitzen wollen? Es steht mir nicht zu..."

Ich unterbreche sie bestimmt: „Was Ihnen zusteht und was nicht, entscheide ich in meinem Haus. Und ich würde mich freuen, wenn Sie auf meinem Stuhl Platz nehmen und so viel Fläche meines Schreibtisches nutzen, wie Sie benötigen." Sie schaut überrascht, dann schleicht sich ein Lächeln auf ihre Lippen. „Seit wann sind Sie denn so gut im Herumkommandieren, Orland?", fragt sie verschmitzt. Ich lache. „Sehen Sie, Esther, ich habe sehr viel von Ihnen gelernt."

Sie kommt ohne weitere Einwände um den Tisch herum und lässt sich von mir den Stuhl zurecht schieben, als sie sich setzt. Dann lege ich einen Bogen Papier vor ihr ab, auf dem ich das Alphabet aufgeschrieben habe und erkläre ihr die Funktion von Vokalen und Konsonanten, wie man sie schreibt und gebraucht.
Nach zwei Stunden muss ich feststellen, dass ich Recht behalten habe. Esther ist nicht nur eine sehr gute Gouvernante und Lehrerin, sondern auch eine sehr gute Schülerin. Obgleich die Buchstaben, die sie schon schreiben kann, noch etwas wacklig aussehen, ist sie in der Lage, diese zu unterscheiden und ihrem Klang zuzuordnen.

„Sie sind wirklich talentiert", bemerke ich, als sie nach dem letzten Buchstaben meine Füllfeder zur Seite legt. Sie reibt sich ihren verspannten Nacken, der wie immer durch einen hohen Kragen verborgen ist.

„Meinen Sie das ernst oder sagen Sie es nur so?", hakt sie nach. Ich ziehe meine Augenbraue hoch. „Wollen Sie wirklich mein Urteil anzweifeln? Wenn ich etwas sage, dann meine ich es so." „Gut, dann möchte ich dieses Kompliment gerne annehmen. Übrigens haben Sie sich die letzten Male beim Tanzen auch nicht so schlecht geschlagen."

Ich seufze. Das Tanzen macht mir inzwischen sogar Freude, doch ich merke, wie es mir jedes Mal schwerer fällt, wenn ich mit Annalies tanze statt mit Esther.
„Das ist nett, dass Sie das sagen. Doch ich fürchte, dass ich nie gut genug sein werde, um mich auch öffentlich aufs Parkett zu wagen." Esther erhebt sich von meinem Stuhl, damit sie mit mir auf Augenhöhe ist.

„Was Sie da von sich geben, ist absoluter Unsinn, wenn ich das mal so offen sagen darf. Oder was würden Sie sagen, wenn ich mich erst traute, Briefe zu schreiben, wenn ich eine Meisterin der Kalligraphie bin? Es geht doch nicht darum, in allem perfekt zu sein, sondern um gesellschaftliche Teilhabe. Beim Schreiben wie beim Tanzen geht es darum, sich ausdrücken zu können, in Kontakt mit anderen Menschen zu treten. Verbauen Sie sich diese Chance nicht selber, indem Sie denken, Sie müssten alles einwandfrei bringen. Kein Mensch wird je perfekt sein."

Ich schaue sie versonnen an und denke, dass einige Menschen sehr nahe daran sind, perfekt zu sein. „Sie haben einen sehr realistischen und doch liebenswürdigen Blick auf die Welt", bemerke ich. Sie lächelt leicht. „Auch etwas, das ich erst lernen musste."

„Wie meinen Sie das?", frage ich neugierig. Sie zuckt mit den Schultern. „Ich glaube, dass es Menschen gibt, die heranwachsen und von Anfang an wissen, wer sie sind und was sie von der Welt halten sollen. Und dann gibt es Menschen wie mich, die irgendwann in ihrem Leben an einen Punkt kommen, an dem sich die Sicht auf alles vollkommen verändert. Ob Sie es glauben oder nicht, ich bin vor gar nicht langer Zeit noch ein komplett anderer Mensch gewesen."

Ich kann ehrlich gesagt nicht glauben, dass sie jemals anders gewesen sein soll. Auf mich wirkt Esther so gefestigt und selbstbewusst, dass es so scheint, als hätte sie schon immer mit sich im Einklang gestanden. „Inwiefern anders?", hake ich nach. Sie schüttelt den Kopf. „Das ist Vergangenheit. Und die Vergangenheit ist vorbei. Übrigens wollte ich Sie fragen, ob ich für Annalies ein neues Kleid anfertigen lassen darf. Der Tanzabend bei den Kardens rückt näher und für solche Veranstaltungen ist sie nicht ausgestattet."

Ich nicke ohne zu zögern. „Selbstverständlich. Suchen Sie etwas Schönes aus und lassen Sie die Rechnung an mich schicken." „Dankeschön." Sie klingt erfreut. „Und vielen Dank für Ihre Mühe heute. Ich habe tatsächlich das Gefühl, dass ich es lernen könnte."

„Sie können es lernen", sage ich und bin mir meiner Worte absolut sicher. Esther schickt sich an, den Raum zu verlassen, doch ich halte sie zurück. „Eine Sache noch, Esther." Sie wendet sich mir zu. „Ja?"
Ich lächele etwas unsicher. „Sie kommen doch mit auf den Tanzabend der Kardens, oder? Ich habe das Gefühl, dass sowohl Annalies als auch ich es nötig haben, vor Peinlichkeiten bewahrt zu werden." Ihre Augen funkeln amüsiert. „Wenn Sie es wünschen, Orland, werde ich selbstverständlich auf Sie beide achtgeben."

***

Schneller als gedacht vergeht die Zeit bis zum Tanzabend. Es wird Dezember, es wird Advent und endgültig eisig kalt. Annalies zuliebe lasse ich Ernst das Haus mit Tannengrün, roten Schleifen und Kerzen verzieren und ihr glückliches Gesicht darüber zeigt mir, dass ich alles richtig gemacht habe. Ich möchte, dass meine Nichte wunderschöne Feiertage verlebt, dass sie sich geborgen und zuhause fühlt und das erste Mal in ihrem Leben ein richtiges Weihnachtsfest hat.

Ich denke an die letzten Jahre zurück und erinnere mich, wie einsam es doch gewesen ist ohne sie und Esther. Manchmal höre ich die beiden Weihnachtslieder singen und mein Herz geht dabei auf. Esther hat eine wunderschöne, klare Stimme, der ich ewig zuhören könnte.

Seit sie mit uns gemeinsam isst, ist die Atmosphäre bei Tisch viel gelöster. Trotz kleiner Ermahnungen an Annalies, dass sie gerade sitzen oder das Glas anders halten soll, wird sich viel mehr unterhalten und gelacht. Während ich früh in Ruhe meine Zeitung lesen kann und Esther für ihre Schülerin den Tagesplan erläutert, findet abends ein offenes Gespräch statt und jeder erzählt von seinen Erlebnissen.

Es fühlt sich an wie Familie. Meine Nichte ist fast wie eine Tochter für mich und ihre Gouvernante – nun ja, sie ist auf jeden Fall mehr als eine Angestellte.
Nach wie vor gebe ich Esther Unterricht. Und sie lernt rasant. Ich genieße die Stunden, in denen wir zu zweit sind, jeden Tag aufs Neue. Oft hole ich mir einen Rat von ihr, sowohl bezüglich Annalies, als auch teilweise geschäftlich. Ich merke, wie viel sie weiß, wie gut sie sich auskennt und ich frage mich, wie ich je wieder ohne sie auskommen soll. Doch diesen Gedanken schiebe ich jedes Mal beiseite. Es gibt genug Aufgaben für sie und da sie sich ganz offensichtlich wohlfühlt, gibt es keinen Grund, warum sie gehen wollen sollte.

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