Kapitel 17 - Esther

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„Heute widmen wir uns ganz einer völlig unterschätzen Kunst: Der Rezitation." Wir befinden uns in der Bibliothek, einem Ort, den ich bisher gemieden habe. Ich fühle mich nicht wohl zwischen Büchern, zwischen all dem Wissen, das ich nicht entziffern kann. Doch zweifellos bietet dieser große Raum das richtige Ambiente für mein Vorhaben.

Baron von Mailinger und seine Nichte haben nebeneinander auf zwei Polsterstühlen Platz genommen. Annalies sitzt gespannt wippend auf der Stuhlkante, ihr Onkel lümmelt sich defensiv in die Lehne. Offensichtlich weiß er nicht, was er von dieser Unterrichtsstunde halten soll. Oder er hat etwas völlig anderes erwartet.

„Worum geht es bei der Rezitation, Annalies?", frage ich und sie beginnt, angestrengt zu überlegen. Der Baron räuspert sich. „Ist das nicht einfach nur Vorlesen?" Ich schüttele den Kopf, während ich langsam vor den beiden auf und ab schreite. „Tut mir leid, Durchlaucht, aber es geht hierbei nicht einfach ums Vorlesen. Rezitieren soll zwei Ziele miteinander vereinen. Der erste Zweck liegt darin, ein bekanntes oder unbekanntes Werk einem Publikum nahezubringen. Ein Gedicht aufzusagen oder ein Drama in verteilten Rollen zu lesen, erfüllt einen Bildungsauftrag. In Gesellschaften schafft es die Grundlage für Diskussionen über den Künstler, die Entstehungszeit oder ein Thema, welches in dem Werk transportiert wird. Rezitation hat also das Potential, einen gebildeten Austausch zu fördern. Der zweite Zweck liegt in der Person, die einen Text rezitiert. Sie hat die Möglichkeit, sich in das beste Licht zu rücken und fremde Worte dafür zu nutzen, sich selbst vorzustellen. Bei Hofe ist es sehr üblich, in kleineren Gesellschaften die Zeit mit Gesang, Tanz oder eben lyrischen und dramatischen Texten zu vertreiben. Wenn ich etwas vorlese, gebe ich kund, wie ich ein Werk interpretiere, welche Gefühle es in mir hervorruft. Und deshalb geht es eben nicht um ein schnödes Ablesen, sondern um Distanz und Nähe, fremde und eigene Gefühle, um einen fiktiven Charakter und um mich."

Annalies runzelt die Stirn. „Können Sie das mal vormachen, Fräulein?" Ich schüttele vehement den Kopf. „Nein, Annalies. Und zwar deshalb nicht, weil du nicht rezitieren sollst, wie ich, sondern wie du es für richtig hältst. Ernst war so nett und hat ein bestimmtes Werk für uns herausgesucht, mit dem wir uns heute beschäftigen wollen." Ich deute auf die Bücher, welche beide schon auf ihrem Schoß liegen haben. Es ist eines der bekannteren Dramen, aus dem ich selbst schon viel rezitiert habe. Zu Beginn meiner Zeit als Hofdame half mir Theodora, die berühmtesten Szenen auswendig zu lernen, später verpflichtete ich Adalmar dazu. Das waren für ihn wohl die nervigsten Stunden des Tages.

„In diesem Drama geht es um Liebe und Feindschaft, beides sind sehr starke Motive und oft sehr schwer zu lesen. Wir beginnen in Akt 2, Szene 2. Annalies, du startest im vorderen Teil bei dem Vers mit dem Schattendunkel." Beide schlagen Sie gehorsam ihre Bücher auf, obwohl ich deutlich sehen kann, dass Baron von Mailinger sich fragt, warum er auch rezitieren muss. Doch vermutlich hätte ich ihn auch lesen lassen, wenn ich keine Analphabetin wäre. Der Tag gestern ist ein Erfolg gewesen, doch das darf nicht im Sand verlaufen. Die beiden müssen immer neu an das anknüpfen, was sich an verwandtschaftlicher Bindung zwischen ihnen entwickelt.

Annalies blättert in den Seiten umher, um die Stelle zu suchen, an der sie beginnen soll und ihr Onkel beugt sich wie selbstverständlich zu ihr und deutet mit dem Finger auf dem richtigen Vers. Ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. Gestern hätte ich ihn vermutlich noch nonverbal darauf hinweisen müssen, seiner Nichte zur Hand zu gehen. Doch inzwischen hat er seine Aufmerksamkeit so weit geschult, dass er die kleinen Momente erkennt, in denen er ihr helfen kann.

Annalies räuspert sich, um alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und rattert dann hinunter: „Wer bist du, der du in mein Selbstgespräch eintrittst vom Schattendunkel..."

Ich unterbreche sie. „Annalies, das lesen wir gleich noch einmal. Und versuche, dich in die Person hineinzuversetzen. Was könnte sie fühlen?" Annalies beißt sich auf die Lippe. „Ich weiß es nicht, Fräulein. Ich kenne den Text nicht." Ich sehe sie eindringlich an. „Du musst den Text nicht kennen. Wirf einen Blick auf das, was vorher passiert. Die Protagonistin redet mit sich selbst, spricht ihre Gefühle offen aus. Und dann merkt sie, dass Sie belauscht wird. Wie würdest du dich da fühlen?" „Vielleicht unsicher? Und ein bisschen peinlich berührt? Ist das so richtig?" Ich zucke mit den Schultern. „Wenn du es so empfindest, dann ist es richtig. Und schau auf die Satzzeichen. Welches Satzzeichen haben wir am Ende des Verses?" Annalies schaut in ihr Buch. „Ein Fragezeichen, Fräulein." Ich nicke. „Gut, aber wenn du vorliest, dann hast nur du den Text vor dir. Die Leute, die dir zuhören, wissen nicht, dass dort ein Fragezeichen steht. Deshalb musst du es Ihnen mit deiner Stimme mitteilen."

Die GouvernanteUnde poveștirile trăiesc. Descoperă acum