Kapitel 10 - Esther

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Erleichtert und auch ein bisschen stolz lege ich die Schreibfeder beiseite und schaue auf meine Unterschrift. Diese kleine Hürde des Analphabetismus hat mich den gesamten Tag über beschäftigt. Irgendwann hatte ich dann frustriert das Zimmer verlassen und mich im Haus umgesehen. Ernst war so freundlich gewesen, mir die wichtigsten Räumlichkeiten im Untergeschoss zu zeigen, sowie die Tür, welche in die Räumlichkeiten der Baroness führt. Zudem hatte er mich genötigt, mit der Dienerschaft Mittag zu essen. Ich hatte mich unwohl gefühlt, zu Recht, denn Else und Hedwig ignorierten mich gekonnt.

Regina jedoch hatte mich gerettet und mir ein paar Fragen gestellt. Und ich hatte gestaunt, wie unaufdringlich sie das vermochte. In meinem Leben hatte ich schon weit anstrengendere Gespräche mit höherstehenden Personen geführt. Letztendlich war sie es gewesen, die mich auf die entscheidende Idee brachte, wie ich meine Unterschrift auf diesen Vertrag bekommen konnte. Denn sie fragte mich ganz arglos nach meinen Referenzen für diese Anstellung und in diesem Moment fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Marthas Empfehlungsschreiben!

Lächelnd blicke ich auf das Pergament, welches meine Schwester mir mitgegeben hat. Es ist sauber beschrieben und mein Name wurde vom restlichen Text abgesetzt. Meine Rettung, denn letztendlich habe ich nichts weiter tun müssen, als diese komischen Zeichen ein paarmal zu üben und anschließend unter den Vertrag zu setzen. Zum Glück hatte ich immer schon ein Talent für das Zeichnen. Und schreiben ist doch schließlich nichts anderes, oder?

Als ich ein mir wohlbekanntes Geräusch vernehme, trete ich ans Fenster, von welchem aus ich den Platz und den Garten hinter dem Haus im Blick habe. Die Kutsche, in welcher der Baron mit seiner Nichte den Tag über unterwegs gewesen ist, fährt gerade im Dämmerlicht auf das Anwesen. Ich beobachte, wie die beiden über das hintere Portal das Haus betreten, dann sind sie meiner Sicht entschwunden.

Kurz schrecke ich zusammen, als die kleine Wanduhr in meinem Zimmer halb sechs schlägt. Nervös knete ich meine Hände. In wenigen Minuten werde ich zu Baroness Annalies hinübergehen, mich noch einmal vorstellen und hoffen, dass sie mir freundlich gesinnt ist. Natürlich habe ich einen guten Eindruck auf sie hinterlassen, indem ich ihr auf dem Markt zur Hilfe geeilt bin und vermutlich habe ich meine Anstellung auch nur ihr zu verdanken, dennoch bin ich nicht sicher, ob sie mich als Gouvernante akzeptieren wird. Als Person, die sie auch mal zurechtweisen wird, die ihr manches Wissen beizubringen versucht, was ihr unnütz erscheint. Was soll ich tun, wenn sie mich nicht als Autoritätsperson annehmen möchte?

Ich schüttele den Kopf über mich selbst. Das ist so typisch meine Art, dass ich in den meisten Fällen alles zerdenke und Szenerien sich in meinem Kopf viel schlimmer abspielen, als sie es dann in Wirklichkeit tun. Aber es verrät mir wieder einmal etwas über mich: Diese Anstellung ist mir wichtig, ist ein Schritt in eine neue, richtige Richtung. Und ich habe Angst, dass alles schief geht, so wie im letzten Abschnitt meines Lebens.

Ich straffe meine Schultern und atme tief durch. „Das hier ist ein neuer Anfang", spreche ich in den Raum hinein. „Und dieses Mal wirst du es besser machen."

Und mit diesem recht dürftigen Zuspruch an mich selbst, verlasse ich das Zimmer.

***

Ich habe kaum an die Tür geklopft, da wird sie bereits von innen aufgerissen und eine aufgekratzte Baroness Annalies blickt mir entgegen. „Sie sind das!", ruft sie erfreut aus und ein Leuchten tritt in ihre Augen. „Onkel Orland hat gesagt, dass ich eine Gouvernante bekomme, aber ich wusste nicht, dass Sie es sein würden. Wo Sie doch neulich meinten, er würde Sie vermutlich nicht einmal zum Essen einladen." Ich erinnere mich, dass ich so etwas vor ein paar Tagen auf dem Markt andeutete. Doch schien die Situation noch eine ganz andere zu sein. Ich hätte damals nicht gedacht, dass ich einmal hier stehen würde, in den Diensten des Barons und der freudigen Erwartung seiner Nichte ausgesetzt.

Die GouvernanteWhere stories live. Discover now