Kapitel 16 - Esther

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Ich nicke Baron von Mailinger auffordernd zu, woraufhin er Annalies seine Hand anbietet, um ihr aus der Kutsche zu helfen. Freudig überrascht von dieser Geste errötet sie leicht. Ich selbst schaffe den Ausstieg ohne dargebotene Hilfe. Das ist wirklich ein Vorteil an der einfachen Kleidung, die ich als Gouvernante trage. Ich komme weitestgehend allein damit zurecht.

„Womit möchtest du gerne anfangen, Annalies?", frage ich gut gelaunt, bevor sich durch die Unschlüssigkeit der beiden eine unangenehme Atmosphäre ausbreiten kann. Die Angesprochene braucht eine Weile, um sich zu entscheiden. Sie scheint völlig überwältigt davon, dass gleich zwei Menschen heute nur für sie da sind, um sie zu beraten und ihr einen schönen Tag zu bereiten. Schließlich meint sie vorsichtig: „Womöglich wären Vorhänge und ein Teppich ganz gut. Dann wäre das Farbkonzept vorgegeben." Ich nicke wohlwollend. Das Mädchen hat in den vergangenen Tagen einiges dazugelernt.

Damit nicht jeder einzeln für sich losstapft, beeile ich mich zu sagen: „Natürlich sollst du heute auch etwas lernen, Annalies. Du gehörst zur oberen Gesellschaftsschicht und sollst auch lernen, wie ein Mitglied dieser aufzutreten. Du bist eine Dame von Rang und somit ist es die Pflicht eines Herrn, dir den Arm anzubieten, wenn er dich begleitet." Zum Glück braucht der Baron keinen weiteren scharfen Blick, er versteht die Anweisung und lädt seine Nichte dazu ein, sich bei ihm unterzuhaken. Ich bin sehr zufrieden mit mir selbst. Es kann nicht schaden, die Etikette des Barons ganz nebenbei ein bisschen aufzupolieren. Sollten die beiden je gemeinsam eingeladen werden, müssen sie vertraut und einheitlich auftreten und dürfen sich nicht in der Nähe des anderen unwohl fühlen. Das gilt es zu trainieren.

Während wir uns langsam in Bewegung setzen, lasse ich ganz beiläufig fallen: „Durchlaucht, was halten Sie von der Garderobe Ihrer Nichte? Es ist eins der neuen Kleider..." und gebe somit Orland von Mailinger den Aufhänger für ein etwas wackliges Kompliment und die Frage, wie Annalies denn der Besuch bei der Schneiderin gefallen hätte. Mehr Einladung braucht mein Schützling nicht, um ausschweifend von unserem Ausflug zu erzählen. Irgendwann landen die beiden über das Thema Lieblingsfarbe bei den Stoffen, die Annalies sich für ihre Vorhänge vorstellt. Ich laufe hinter den beiden und beobachte die Entwicklung mit Wohlwollen. Orland von Mailinger ist kein Meister der Konversation, aber er gibt sich Mühe und trifft einen Ton, bei dem seine Nichte sich angesprochen fühlt. Und es geht ja auch nicht darum, dass die beiden tiefsinnige Gespräche führen, sondern um ein sanftes Kennenlernen und eine entspannte Stimmung. Tatsächlich bemerke ich, wie der Baron nach einiger Zeit die Anspannung fallen lässt und offenbar die Angst verliert, etwas falsch machen zu können.

In einer kurzen Gesprächspause hake ich mich ein und deute auf einen Marktstand in der Nähe, der hochwertige Stoffe feilbietet: „Schau Annalies, dort könnten wir fündig werden." Die beiden folgen meinem Wink und kurz darauf lassen wir unsere Hände über Stoffbahnen gleiten. Der Baron hat sich ein paar Schritte zurückgezogen, um uns nicht bei der Auswahl zu behindern, aber das ist in Ordnung so. Ich würde von keinem Mann erwarten, dass er sich mit dekorativen Elementen auskennt.

„Achte darauf, jeden Stoff ordentlich zu befühlen", erläutere ich eindringlich. „Vorhänge brauchen eine gewisse Schwere, damit sie schön fallen. Du solltest außerdem darauf achten, welchen Farbton du wählst. Cremefarben wäre zwar sehr elegant, bietet womöglich aber nicht die gewünschte Verdunklung." Annalies saugt wie immer meine Anweisungen in sich auf und macht sich daran, die Auslage nach den vorgegebenen Qualitätsmerkmalen zu prüfen. Als sie ihrem Onkel und mir schließlich stolz einen dunkelblauen Stoff mit Silberfäden zeigt, sind wir beide mehr als einverstanden mit der Wahl. Ich nenne der Marktfrau die Maße, die wir brauchen – eine Information, die ich mir wohlweislich von Ernst besorgt habe – und sie gibt uns die Zusage, die Ware direkt ins Anwesen zu liefern.

Einen Teppich und zwei Kerzenleuchter später finden wir uns an einem Stand mit unzähligen Spiegeln wieder. Während Annalies voller Begeisterung in der Auslage stöbert, tritt Orland von Mailinger ein Stück an mich heran und meint aufrichtig: „Sie machen das großartig, Fräulein Griffel. Ich bin beeindruckt, über wie viel Expertise Sie verfügen und wie Sie Ihr Wissen mit Annalies teilen, sodass sie daraus lernt. Hätte sie sich vor einem Jahr ein Zimmer einrichten sollen, wäre vermutlich alles bunt zusammengewürfelt gewesen. Und nun beweist sie – nun ja – Geschmack, soweit ich das beurteilen kann."

Die GouvernanteWhere stories live. Discover now