Kapitel 35 - Orland

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Ich sitze am Schreibtisch und brüte über den letzten Details der morgigen Reise, als mich ein Klopfen an der Zimmertür aufblicken lässt und Ernst kurz darauf den Raum betritt.
„Durchlaucht, soeben ist...", setzt er an, wird jedoch unterbrochen durch den Mann, der schwungvoll in mein Arbeitszimmer rauscht und gut gelaunt verkündet: „Schon gut, Ernst, ich kann mich meinem Bruder selber ankündigen."
Überrascht und erfreut zugleich stehe ich auf und schließe Kasimir in die Arme. „Was machst du hier?", frage ich verdattert. „Du hast nicht geschrieben, dass du kommst, sonst hätte ich uns ein wenig Zeit eingeräumt."
Kasimir winkt ab. „Unsinn. Ich dachte mir, dass du inzwischen ganz gut ohne mich zurechtkommst und deinen großen Bruder nicht mehr brauchst, damit er dir unter die Arme greift. Und außerdem habe ich gehört, dass ihr verreist. Da wäre doch ein längerer Aufenthalt nur hinderlich."
Kasimir macht keinen Hehl daraus, dass ihm gefällt, wie sich alles entwickelt. Ich muss schmunzeln.
„Ich habe dir aufgrund der kurzen Zeit nicht geschrieben, dass wir wegfahren. Ich wollte dir aus Calia eine Nachricht zukommen lassen. Also, woher weißt du es? Lässt du mich jetzt auch schon bespitzeln, so wie Seraphina einst?", füge ich im Spaß hinzu.
Mein Bruder schenkt sich einen Cognac ein und nimmt bedächtig einen Schluck. „Nein, das würde ich nie tun. Ich vertraue dir. Ich bin auf der Durchreise und wollte eigentlich nur kurz hier Halt machen, um dir etwas zu geben. Aber scheinbar habe ich ein Gespür für den rechten Zeitpunkt. Der Dorftratsch funktioniert ausgezeichnet und ich habe ganz nebenbei erfahren, dass unsere Annalies in Calia Hofdame werden wird. Das hat mich überrascht. Ich wusste nicht, dass du zum einen so gut weißt, was deine Nichte will und zum anderen wohl äußerst gute Verbindungen hast."
Ich schüttele den Kopf. „Es ist nicht sicher, ob Annalies Hofdame wird, aber die Chancen stehen sehr gut. Und so ungern ich es zugebe, meine Rolle in dieser Geschichte ist eher unrühmlich. Mein Ziel war es, Annalies zu verheiraten. Esther hat sich dagegen gestellt und mich rasend vor Wut gemacht, da sie es fertig gebracht hat, meine Nichte einen Antrag ablehnen zu lassen, mir ein schlechtes Gewissen zu bereiten und sich außerdem noch mit mir gestritten hat, als wäre sie die Herrin im Haus."
Kasimir schmunzelt. „Jetzt weißt du, warum ich sie damals ausgesucht habe. Ich hatte schon so das Gefühl, dass sie dir Paroli bieten kann. Und das, mein Lieber, ist fast noch wichtiger, als unsere Annalies zu erziehen. Es hat dich aus deiner Komfortzone geholt und zu einem weit lebensfroheren, angenehmeren Gesellen gemacht. Außerdem nehme ich an, dass sie alles wieder gut gemacht hat?" In seinen Augen blitzt eine jungenhafte Neugier auf.
Ich nicke. „Sie hat es mehr als gut gemacht. Vor einer Woche bekam ich eine Einladung zur Taufe der Prinzessin von Calia. Kein Formblatt mit Siegel, sondern handgeschrieben, von der Königin persönlich und mit Grüßen an Esther versehen."
Mein Bruder fährt sich gedankenverloren durch die Haare. „Ich nehme an, in diesem Moment hattest du ihr verziehen." Ich lege den Kopf schief. „Ich hatte ihr schon viel eher verziehen. Sie will das Beste für Annalies und weiß im Gegensatz zu mir auch, was es ist. Ich könnte ihr alles verzeihen. Zudem hat sie unsere Nichte vor Seraphina verteidigt. Ich wäre an ihrer Stelle wohl schockiert weggelaufen."
Kasimir runzelt die Stirn. „Ja, Seraphina... Sie hat mir geschrieben. Irgendein wirres Zeug davon, dass Orlands Bettgesellin es gewagt hat, Hand an sie zu legen. Ich habe nicht viel darauf gegeben, obwohl ich es schon recht amüsant fand, dass sie dir ein verruchtes Liebesleben zutraut. Ich meine, bevor Fräulein Griffel zu dir kam, hätte ich nicht gedacht, dass überhaupt eine Dame existiert, die es länger als einen Tag mit dir aushält. Von einer unorthodoxen Liebelei ganz zu schweigen."
Ich lasse mich wieder in meinen Stuhl fallen. „Na herzlichen Dank auch. Wie schön, dass du mir so viel zutraust."
Kasimir wird auf einmal ernst. „Orland, hast du dich eigentlich jemals gefragt, wer sie ist? Um genauer zu sein: Wer sie war, bevor sie zu uns gekommen ist? Natürlich war mir das damals auch egal, als mir der Gedanke kam, dass du sie einstellen könntest. Sie ist kompetent und klug und mehr hätten wir zu diesem Zeitpunkt gar nicht fordern können. Aber inzwischen hat sie sich als so viel mehr entpuppt als das und ich frage mich allmählich, was schiefgegangen sein kann, dass sie alle Verbindungen zu ihrer Vergangenheit gekappt hat."
Ich lehne mich zurück. „Am Anfang habe ich mich das ständig gefragt. Ihre Stellung als Hofdame und dann ihre Zeit in dieser schäbigen Spelunke schien einfach nicht zusammen zu passen. Aber inzwischen ist mir egal, was vorher gewesen ist. Ich kenne sie jetzt und ich vertraue ihr."
Ein erneutes Klopfen unterbricht uns und auf mein „Herein" tritt Esther in das Arbeitszimmer. Sie erblickt Kasimir und auf ihr Gesicht tritt ein Lächeln.
„Baron von Grohting, wie schön Sie zu sehen", meint sie und knickst leicht. Mein Bruder erwidert die Begrüßung. „Danke, gleichfalls, Fräulein Griffel."
„Orland hat gar nicht erwähnt, dass Sie kommen." Sie blickt kurz zu mir. Ich räuspere mich. „Tatsächlich wusste ich es nicht. Kasimir ist unangekündigt eingefallen." Mein Bruder lächelt schelmisch. „Ja, ich habe das Gefühl, ich darf nicht zu lange wegbleiben, sonst verpasse ich noch, wie Sie hier alles durcheinanderwirbeln. Sie haben meiner Nichte eine Stellung als Hofdame in Aussicht gestellt?"
Esther bestätigt: „Ja, das ist richtig. Die Einladung der Königin ist sehr großzügig und ich kenne sie als jemanden, der keine falschen Signale sendet. Sie wird Annalies unter ihre Fittiche nehmen und sorgsam auf sie Acht geben." „Und was werden Sie dann tun?", fragt Kasimir. „So bedauerlich es ist, Orland wird Sie als Gouvernante nicht mehr brauchen, wenn Annalies bei Hofe ist."
Vor Schreck hört mein Herz kurz auf zu schlagen. Daran habe ich ja noch überhaupt nicht gedacht! Ich habe den Blick immer so sehr auf die Zukunft meiner Nichte konzentriert, dass ich mir gar keine Sorgen um Esther und mich machen konnte. Ich habe mich so an sie gewöhnt, sie ist ein Teil meines Lebens geworden. Der wichtigste und schönste Teil darin. Und so sehr es mir am Anfang ihrer Anstellung hier bewusst war, so wenig war der Gedanke in der letzten Zeit präsent: Dass sie gehen und mir das Herz brechen wird.
Ich suche nach einer Reaktion in Esthers Gesicht, irgendeiner Regung, die mir verrät, dass sie diese Frage ebenso kalt erwischt hat. Doch sie scheint von der Vorstellung, gehen zu müssen, ganz unberührt zu sein.
„Ich bin noch zu keinem Entschluss gelangt, Durchlaucht. Im Prinzip ist es mein Glück gewesen, dass Sie mir damals diese Anstellung vermittelt haben. So wurde mir erspart, ernsthaft in Grübeleien zu verfallen. Meine Priorität ist vorerst, meine Arbeit hier gut zu beenden, Annalies am calischen Hof einzuführen und alles Weitere wird sich danach ergeben."
Kasimir nickt verstehend. „Natürlich, das ist verständlich. Und es ehrt Sie, dass Sie Ihre Arbeit bis zum Schluss so gewissenhaft ausfüllen. Orland wird Sie sicher vermissen. Aber womöglich ergibt sich in Ihrer Heimat ja eine neue Perspektive für Sie. In heimischer Umgebung etwas zu finden, stelle ich mir einfacher vor, als in der Fremde."
Esther lächelt verhalten. „Ich würde nicht darauf wetten. Und eigentlich bin ich ganz gerne in Arex. Meine Heimat scheint inzwischen so... weit entfernt", reagiert sie ausweichend und ich sehe wieder ihre Ablehnung Calia gegenüber durchscheinen.
„Wie auch immer", schlägt sie einen geschäftlicheren Ton an. „Das Schneideratelier hat einen Kostenvoranschlag überbringen lassen und ich war so frei, ein paar Anmerkungen zu den Beträgen zu machen. Die gute Dame scheint zu glauben, dass sie die Preise in die Höhe treiben kann, weil Sie ihr wohlhabendster Kunde sind."
Sie platziert die Kostentabelle am Rand meines Schreibtisches. „Schauen Sie sich das später in Ruhe an, es eilt nicht und Sie haben sicher wichtigeres zu tun."
Mit einem Lächeln zu Kasimir verlässt sie das Studierzimmer und zieht sich zurück.
Mein Bruder sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. „So weit seid ihr also schon." Ich blicke ihn verständnislos an. „Wie meinst du das?"
Ein schelmisches Grinsen tritt auf sein Gesicht. „Nun, ihr seid soweit, dass sie nicht mehr nur Annalies' Gouvernante ist, sondern auch deine rechte Hand, die nebenbei schon den halben Haushalt organisiert. Kostenvoranschlag und so..." Ich werfe ihm einen bösen Blick zu. „Ich habe eben keine Ahnung von Kleidern."
Kasimir macht eine wegwerfende Handbewegung. „Du hast Ahnung von Finanzen. Und nichts anderes ist dieser Schriebs. Das ist doch nur eine Ausrede, mit der du vor mir zu verbergen versuchst, dass du ohne Esther Griffel nicht mehr sein kannst. Vielleicht geschäftlich, aber nicht dein Leben, nicht dein Herz. Diese Dame ist so sehr in deinen Alltag eingebunden, dass ihr inzwischen ein Leben lebt. Und das ist wunderbar, das ist genau das, was ich dir geraten habe zu tun, als du sie zu den Mahlzeiten dazu geholt hast. Aber ich frage mich ehrlich gesagt, warum du nicht längst schon einen Schritt weitergegangen bist. Zwischen euch scheint doch alles so klar zu sein!"
Ich hole tief Luft. Ich hasse es, über meine Gefühle zu reden. „So einfach ist das nicht, Kasimir. Ich bin nicht du und sie ist nicht Vivien. Wir sind nicht so unbeschwert und unbelastet, wie ihr es damals wart. Die letzte Zeit war ein ständiges Auf und Ab, wir haben gestritten, sie hätte uns fast verlassen und sie hat ernsthaft in Erwägung gezogen, uns nicht nach Calia zu begleiten. Ich wollte warten, bis sich die Wogen wieder geglättet haben."
„Du bist ein Feigling, Orland", stellt mein Bruder fest, ohne dass es sich beleidigend anhört. „In einer engen Beziehung sind die Wogen niemals glatt. Wenn du diese Ausrede weiterhin gebrauchst, dann verlierst du sie. Denkst du, in Calia wird es entspannter? Oder wenn ihr zurückkommt und sie schon mit einem Fuß in einer neuen Anstellung steht?
Ich habe genau gesehen, wie dir das Gesicht eingeschlafen ist, als ich ihr Vertragsende erwähnt habe. Und ich bin extra so darauf herumgeritten, weil ich will, dass du aufwachst. Es gibt so viele Momente, aber nie den perfekten. Du musst ihn zum perfekten Moment erklären und endlich Initiative ergreifen."
Ich raufe mir die Haare. „Meine Güte, ich hasse es so sehr, wenn du Recht hast. Es ist einfach alles viel zu schnell gegangen. Ich dachte, ich hätte sie noch ewig bei mir. Dass sich irgendwie alles ergeben würde mit der Zeit und irgendwann auch für sie klar wäre, dass wir zusammenbleiben."
Kasimir betrachtet mich skeptisch. „Erzähle nicht so einen Unsinn. Das würde weder dir noch ihr gerecht werden. Sie verdient es, dass sich ein Mann ordentlich um sie bemüht. Gerade weil sie eine Person ist, die sich immer um das Wohl anderer sorgt. Und du, lieber Bruder, dir täte es gut, dass du dir richtig Mühe gibst und deine Zukunft vollen Bewusstseins in die Hände einer Frau legst."
Mein Bruder kramt in der Tasche seiner Jacke und fördert eine kleine Schatulle zutage, die er mir reicht. „Das habe ich neulich gefunden, als Vivien und ich Mutters Nachlass durchgesehen haben. Eigentlich waren wir auf der Suche nach dem Essservice mit den Schwänen, aber das hier ist wichtiger, wie ich finde. Deshalb bin ich vorbeigekommen."
Ich öffne die Schatulle und erkenne einen zarten Ring aus Weißgold mit kleinen blauen Steinchen, der mir ziemlich bekannt vorkommt. „Das ist der Verlobungsring meiner Mutter", hauche ich. Kasimir nickt. „Es ist zwar der Ring, mit dem mein Vater um ihre Hand angehalten hat, aber wir haben uns schon immer als richtige Brüder, eine richtige Familie betrachtet. Und ich möchte dich auch darin unterstützen, dass du sie erweiterst.
Einen Augenblick bin ich sprachlos von dieser Geste. „Kasimir, das ist... Ich bin... Ich danke dir, Bruder", bringe ich schließlich heraus. Ich starre auf den Ring und bekomme das seltsame Gefühl, dass der Gedanke, um Esthers Hand anzuhalten, auf einmal unglaublich real ist.
Mein Bruder scheint mir die leichte Panik anzusehen, denn er beschwört mich: „Orland, sie wird nicht mehr lange deine Gouvernante sein. Lass nicht zu, dass du sie verlierst. Auf dieser Reise nach Calia werdet ihr beiden mehr denn je an einem Strang ziehen, für Annalies. Ich bin sicher, du wirst eine Menge über sie erfahren. Was gibt es für eine bessere Gelegenheit, sie um ihre Hand zu bitten, als dort?"
Ich klappe die Schatulle zu. „Und wenn sie nein sagt?" Kasimir seufzt. „Warum sollte sie? Ihr zwei seid so vertraut miteinander, wie kein anderes unverheiratetes Paar, das ich kenne. Sie kann deine Launen ertragen, ihr könnt streiten, sie hat eine Meinung, die deine ergänzt. Ihr seid perfekt füreinander."
Ich vergrabe mein Gesicht in den Händen. „Als wir stritten, schleuderte sie mir an den Kopf, ich sei der fälschlichen Annahme erlegen, dass eine Frau sich nichts sehnlicher wünscht, als zu heiraten. Ich habe Angst, dass sie gar nicht heiraten will oder dass sie nicht genug für mich empfindet."
Kasimir sieht mich eindringlich an. „Spekuliere nicht. Frag sie. Ist die Chance, dass sie dich erhört, es nicht wert, dass du dich verletzlich machst? Du kannst nur gewinnen, kleiner Bruder. Entweder sie geht fort, was sie sowieso täte, oder du gewinnst sie für dich."
Ich spüre, nach wie vor, Angst und Unsicherheit. Doch ich spüre auch, dass mir keine andere Wahl bleibt. Wenn ich glücklich werden will, dann muss Esther bei mir bleiben. Von Anfang an habe ich das Risiko in Kauf genommen, mich in sie zu verlieben. Und ich habe mich verliebt. Haltlos. Es ist die schönste Zeit meines Lebens gewesen. Jeden Tag neu habe ich den Momenten mit ihr entgegengefiebert und bin nie enttäuscht worden. Nun gilt es, ein weiteres, viel größeres Risiko auf mich zu nehmen. Aber das ist Esther wert. Das ist sie tausendmal wert.

Die GouvernanteWhere stories live. Discover now