Kapitel 43 - Esther

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Henna und Martha warten schon in der Eingangshalle, als ich, den Lakaien mit meinem Gepäck folgend, dort eintreffe. Draußen ziehen die ersten hellen Streifen über den dunkelgrauen Himmel. Es ist noch ziemlich früh.

Ich habe die Zeit für meine Abreise extra so gewählt. Ich wollte Orland nicht noch einmal begegnen. Das Ganze ist ohnehin schon schwer genug für uns beide. Und ich glaube, er hätte es nicht akzeptiert, dass ich mich einfach so aus dem Staub mache. Ich bin feige, das ist mir klar. Aber ich habe auch nicht die Kraft, weiter mit ihm über etwas zu diskutieren, wofür mir die Argumente ausgehen.

Henna sieht noch etwas verschlafen aus, doch ihre Umarmung ist überraschend fest. „Es wäre so schön gewesen, wenn du noch eine Weile geblieben wärst, Esther. Fast habe ich die letzten Tage gedacht, es kann so werden wie früher. Ich verstehe, dass du die Chance für diese neue Anstellung ergreifst, aber schade ist es trotzdem." Ich sehe, wie ihre Augen feucht werden. Dieser Abschied ist ganz anders als meine Verbannung damals. Und doch fühlt es sich so ähnlich an.

Martha schließt mich ebenfalls in ihre Arme. Im Gegensatz zu Henna weiß sie, dass es bei Weitem nicht nur um eine neue Anstellung als Gouvernante geht. Sie weiß, dass ich eigentlich mit meinem Abschied von Orland und Annalies kämpfe. Und es ist ihre einmalige Art, die mir zu verstehen gibt, dass es in Ordnung ist, so wie es ist.

„Ich bin stolz auf dich, Esther", sagt sie. „Vielleicht ist es nicht die Entscheidung, die ich mir für dich gewünscht habe, aber es ist deine Entscheidung und du hast sie dir gut überlegt. Ich hoffe nur, dass du glücklich wirst. Und dass du in Zukunft immer erkennst, wo dein Platz ist."

Ich reiche Martha den Brief, den ich heute Nacht noch geschrieben habe. „Der ist für Annalies. Es tut mir so leid, dass ich mich nicht persönlich von ihr verabschiedet habe, aber gestern wäre es mir einfach zu schwergefallen. Ich hätte keine Antworten auf ihre Fragen gehabt. Ich weiß, dass sie bei euch gut aufgehoben ist und dafür bin ich dankbar. Sie braucht mich jetzt nicht mehr. Sie hat eine fantastische Zukunft vor sich."

Meine kleine Schwester nickt. „Wir sind für sie da. Und den Brief wird sie persönlich von mir erhalten. Ich hoffe, du lässt nicht allzu viel Zeit verstreichen, ehe du uns wieder hier besuchst. Ich darf dir auch liebe Grüße von Titus ausrichten. Er wünscht dir Glück und lässt dich wissen, dass du in seinen Augen die Vergangenheit aufgewogen hast. Er hat sich viel mit deinem ehemaligen Arbeitgeber unterhalten."

Wir drei wechseln einen Blick und ich spüre, dass jetzt der Moment gekommen ist, zu gehen. Die mir zur Verfügung gestellte Kutsche ist mit meinem Gepäck beladen, zumindest mit dem, was ich nach Calia mitgenommen habe. Ich werde an Ernst schreiben müssen und ihn bitten, dass er mir den Rest nachsendet.

Ich lasse mir von einem Lakaien in das Gefährt helfen und fühle mich innerlich leer. Bevor ich die Stellung bei Orland antrat, hatte ich das Bedürfnis, etwas mit meinem Leben anzufangen. Ich hatte Leidenschaft und Ambitionen und genau genommen auch keine andere Wahl. Jetzt gehe ich in diese Stellung, weil sie kein Risiko birgt. Ich sehne mich danach, meinen Platz zu kennen, nach Vorgaben zu handeln, die andere festlegen und die Sicherheit zu haben, dass meine Zukunft nicht wieder in schiefen Bahnen verläuft. Es ist keine glamouröse Perspektive, aber zu mehr habe ich nicht den Mut.

Die Kutsche setzt sich holpernd in Bewegung und ich schließe erschöpft die Augen. Es wird alles gut werden. Als Annalies' Gouvernante habe ich alles richtig gemacht. Diese Arbeit zeigt, was ich kann. Das ist, wer ich bin.

***

Das Anwesen, vor dem die Kutsche nach zwei Stunden Fahrt zum Halten kommt, ist weit größer als Orlands. Es ist schmucklos und kantig, aus grauem Stein und wirft einen einschüchternden Schatten auf die Auffahrt. Der Kutscher hilft mir freundlicherweise aus der Kutsche und versichert, er werde sich um mein Gepäck kümmern.

Die GouvernanteWhere stories live. Discover now