Kapitel 31 - Orland

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Esther hat ihren abgenutzten Lederkoffer auf das Bett geworfen und ist dabei, die wenigen Habseligkeiten aus ihrer Kleidertruhe sorgfältig hinein zu räumen. Zögerlich klopfe ich an den Türrahmen und betrete ihr Zimmer. Ich räuspere mich und sie blickt kurz auf. Ihre Augen sind rot und schwimmen in Tränen. Und ich kann es ihr nicht verdenken. Dieser gesamte Besuch war ein Desaster. Und doch hatte ich nicht erwartet, sie beim Packen vorzufinden. Ich habe nicht damit gerechnet, dass sie mich nach diesem Tag verlassen könnte. Nicht die starke Frau, als die ich sie kennengelernt habe.
„Was genau soll das werden?", frage ich beunruhigt. „Wollen Sie kündigen?" Natürlich könnte ich es ihr nicht verdenken. Sie hat heute einen tiefen Einblick in meine Familie erhalten. Jeder Mensch wäre wohl davon abgeschreckt gewesen. Und doch kann ich auf keinen Fall einfach so zulassen, dass sie uns alleine lässt.
Esther schnieft. „Auch, wenn Sie es mir nicht sagen wollen, ich bin mir der Konsequenzen meines Handelns durchaus bewusst. Ich habe ein Mitglied Ihrer Familie vorsätzlich körperlich angegriffen. Mir ist klar, dass mich das für meine weitere Arbeit hier disqualifiziert."
Es braucht ein paar Sekunden, bis ich durchstiegen habe, was sie mir sagen will, weil es einfach so abwegig ist. Dann platze ich überrascht heraus: „Sie denken, dass ich Sie hinausschmeiße!"
Esther zeigt keine Reaktion, aber das ist mir Bestätigung genug. Ich gehe ein paar weitere Schritte in den Raum hinein und stelle mich zwischen sie und den geöffneten Koffer. Sie blickt mich unsicher an, ein Untergewand in der Hand.
„Legen Sie das beiseite." Esther runzelt die Stirn. „Legen Sie das beiseite", wiederhole ich eindringlich. Schließlich greife ich nach dem Stoff, ziehe es ihr aus der Hand und werfe es achtlos aufs Bett.
„Ich möchte, dass Sie mir jetzt ganz genau zuhören, Esther. Ich würde nicht einmal im Traum daran denken, Sie gehen zu lassen. Selbst, wenn Sie es wirklich wollten, würde ich Sie auf Knien anflehen, bei uns zu bleiben. Es tut mir aufrichtig leid, dass Sie meine Schwester kennenlernen mussten. Es tut mir leid, dass ich sie in mein Haus gelassen habe, dass ich zuließ, dass sie all diese furchtbaren Unterstellungen verlauten ließ und dass sie so abschätzig über Annalies und Sie gesprochen hat. Ich hätte es vorhersehen müssen und meine Pflicht wäre es gewesen, Annalies davor zu schützen. Und Sie ebenfalls.
Unser Verhältnis ist gewiss tiefer als ein reines Arbeitsverhältnis und ich würde auch nichts daran ändern wollen, doch meine Pflicht als Ihr Patron bleibt es, Sie zu beschützen. Und darin habe ich versagt. Dafür bitte ich Sie aufrichtig um Verzeihung."
Esther schluckt und wischt sich mit ihrem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht.
„Ich möchte deutlich klarstellen", fahre ich fort, „dass ich Ihnen in keiner Weise Schuld zuspreche. Seraphina ist eine furchtbare Person und ich hege eine tiefe Abneigung gegen Sie. Ich distanziere mich von allem, was sie gesagt hat."
Esther zittert wieder ein wenig. „Anderswo werden Menschen entmündigt oder zum Tode verurteilt, wenn auch nur der Verdacht besteht, sie hätten Frauen missbraucht. Und sie... Sie hat keine Bedenken, ihre Tochter freiwillig einem solchen Schicksal auszusetzen. Missbrauchte sind Ausgestoßene. Das tut man seiner Tochter nicht an. Das tut man niemandem an."
Aus irgendeinem Grund habe ich das Gefühl, dass sie weiß, wovon sie spricht. Aber ich hake nicht weiter nach. Dieses Thema tut jetzt nichts zur Sache.
„Esther, diese Person wird nie wieder einen Fuß in mein Haus setzen. Aber das Gegenteil hoffe ich von Ihnen. Bitte bleiben Sie bei uns."
Sie sieht mich mit großen Augen an. „Aber Orland, Sie müssen damit rechnen, dass sie es öffentlich macht. Wie stehen Sie da, wenn Sie mich weiterhin beschäftigen? Ich weiß, dass sich ohnehin viele Menschen in Ihrer Baronie die Frage stellen, welche Befugnisse Sie mir zugestehen. Wenn das Gerücht die Runde macht, dass Sie mich über Ihre Familie stellen, ist Ihr Ruf ernsthaft in Gefahr."
Ich schüttele den Kopf. „Sie wird nicht riskieren, irgendetwas nach außen zu tragen, denn dann würde ich ihr Verhalten ebenfalls bloßstellen. Und selbst wenn, auf die Meinung anderer gebe ich nichts."
Esther schnieft erneut. Ich greife nach ihrer Hand. „Ich hätte selber etwas getan, wenn ich schnell genug hätte reagieren können. Natürlich hätte ich sie als Frau nicht schlagen dürfen, aber ich wäre versucht gewesen, es dennoch zu tun. Für mich sind Sie eine Heldin und ich werde Sie nicht gehen lassen. Sie würden uns das Herz brechen."
Sie blickt mich mit ihren dunklen Augen an. „Uns?", fragt sie nach und ich nicke, ganz gefangen von ihrem Blick. „Annalies und mir. Uns beiden."
Sie entzieht mir ihre Hand und lässt sich auf das Bett fallen. „Orland, ich möchte, dass Sie sich keine Vorwürfe machen. Kaum ein Patron hätte je so viel für mich getan, mir so viele Freiheiten eingeräumt, wie Sie es tun. Ich möchte, dass Sie verstehen, dass ich bereit bin, die Konsequenzen für mein Verhalten zu tragen. Und damit meine ich mehr als ein schmerzendes Handgelenk."
„Meine Güte, danach hätte ich Sie fragen sollen! Geht es Ihnen gut?" Ich werfe einen Blick auf ihre rechte Hand und tatsächlich ist das Gelenk ein wenig geschwollen.
„Sie hätten eher etwas sagen sollen, Esther. Solche Blessuren werden schnell unterschätzt." Sie seufzt. „Mir geht es gut." „Trotzdem werde ich einen Arzt kommen lassen. Das ist das Mindeste, was ich tun kann. Und ich werde darum bitten, dass eines der Hausmädchen Ihnen etwas Eis zum Kühlen bringt."
Esther schüttelt den Kopf. „Vielen Dank, Orland. Ich werde mir das Eis selber besorgen." Sie erhebt sich und verlässt das Zimmer. Ich atme tief durch.
Ich konnte sie zum Bleiben überreden. Doch was wäre geschehen, wenn ich es nicht geschafft hätte? Ich spüre, dass ich nicht mehr lange verbergen kann, was ich für Esther empfinde. Andererseits habe ich nicht das Gefühl, als wäre momentan der passende Zeitpunkt, um ihr meine Liebe zu gestehen, nach all dem Auf und Ab der letzten Zeit. Erst der Streit, dann diese tagelange Distanz, jetzt Seraphina mit all ihren zerstörerischen Folgen. Irgendwie scheint mir das Schicksal nicht gewogen zu sein. Ich hatte mir immer vorgestellt, in aller Ruhe und Vertrautheit um die Hand meiner Auserwählten anzuhalten. Aber ich weiß nicht, ob der rechte Moment je kommen wird, oder ob mich einfach die Angst zurückhält, abgewiesen zu werden. Denn wer könnte Esther Griffel diesbezüglich durchschauen?
Ich trete aus ihrem Zimmer hinaus und schließe die Tür hinter mir. Als ich Schritte höre, blicke ich auf und sehe Ernst mir entgegenkommen.
„Durchlaucht, ich wollte Sie darüber in Kenntnis setzen, dass ich die Baroness Seraphina aus dem Haus entfernt habe. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?"
Ich nicke. „Ja, schicken Sie bitte nach einem Arzt. Und behandeln Sie diese Angelegenheit mit Diskretion." Ernst nickt gewichtig. „Natürlich. Fräulein Griffel ist über die Teppichkante gestolpert." Ein Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht. „Ausgezeichnet. Und sehen Sie doch anschließend in der Küche nach ihr, ob sie auch gut versorgt wird."
Ernst verneigt sich und eilt dann davon, um seine Aufgaben zu erledigen. Obwohl mein Kopf immer noch bei Esther ist, gehe ich langsam den Gang hinunter. Jetzt ist wohl die Zeit, mich meiner Nichte zu widmen.

Die GouvernanteWhere stories live. Discover now