Kapitel 23 - Orland

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Esther tritt zögerlich ein. Sie ist schon so oft in meinem Arbeitszimmer mit mir allein gewesen, doch jetzt ist es anders. Nicht nur für sie, auch für mich. Jetzt teilen wir ein Geheimnis, jetzt habe ich einmal die Chance, mich von meiner besten Seite zu zeigen. Eine Chance, mit der ich nicht wirklich gerechnet hatte.

Als Kasimir vorschlug, sie zum Essen dazu zu laden, hielt ich es für die Lösung. Schließlich lernt man sich erst richtig kennen, wenn der Alltag sich überschneidet. Und dann fing sie an, sich zurückzuziehen, wann immer ich einen Schritt auf sie zumachte. Ich wollte mit den Zeitungsartikeln, die ich ihr zeigte, eine Grundlage für lange Gespräche schaffen. Ich wollte ihre klugen Gedanken zu einem Thema hören, dem ich zweifelnd gegenüberstand. Und doch bekam ich nur das Gefühl, sie zu den gemeinsamen Abendessen gedrängt zu haben. In mir manifestierte sich die Angst, dass ihre guten Manieren sie dazu gebracht hatten, zuzusagen, um mich nicht vor den Kopf zu stoßen.

Und dann gestern Nacht unsere Begegnung in der Bibliothek. Ich erinnere mich an den einen Abend in meinem Arbeitszimmer, als sie auf mich wartete, um mir mein schändliches Verhalten vor Augen zu führen. Es war der Abend, an dem ich mich ihr erstmalig öffnen konnte und meine Widerstände über Bord warf. Und solch ein Moment ist es in der vergangenen Nacht auch gewesen.

Aus irgendeinem Grund werde ich das Gefühl nicht los, dass Esther innerlich etwas mit sich herumträgt, was sie sehr belastet. Jeder Mensch hat solche Erinnerungen. Meine ist die gelöste Verlobung, die ich erst loslassen konnte, als ich ihr begegnet bin. Doch ich befürchte, dass es bei ihr weitaus schwieriger ist.

Sie macht Andeutungen, verstreut sie wie kleine Puzzleteile. Diese Ausschnitte aus ihrem Leben als Hofdame, die sie neulich beim Dinner erzählte, haben mich überrascht. Ich dachte, sie wäre in ihrer Rolle am calischen Hof aufgegangen, hätte ihren Status genossen, wäre dort die selbstbewusste Frau gewesen, als die ich sie kenne. Doch stattdessen bekommt sie diesen gequälten Gesichtsausdruck, wenn sie von ihrer Vergangenheit spricht, meint, dass es dort keinen Platz mehr für sie gegeben hätte, obwohl sie sieben Jahre Hofdame gewesen ist.

Kurz bevor Kasimir wieder wegfuhr, fragte er mich, ob er der Sache auf den Grund gehen solle. Zwar vertraut er ihr, wie ich es tue, doch er macht sich Gedanken, dass sie vielleicht Hilfe brauchen könnte von jemandem, der weiß, was geschehen ist.

Ich habe beschlossen, nicht nachzuforschen. Ich verurteile niemanden für seine Geheimnisse und ich würde mich nicht wohl dabei fühlen, ihr Vertrauen zu missbrauchen. Denn das ist es, was ich dabei bin, mir zu erarbeiten.

In der vergangenen Nacht hat sie sich vor mir eine massive Schwäche eingestanden. Sie stand vor mir mit verstrubbelten Haaren und im Nachthemd, hat offen geweint und zugelassen, dass ich ihr helfe. Und das macht sie für mich zu einer starken Frau. Das macht sie für mich schön und liebenswert. Das gibt mir die Möglichkeit, ihr zu helfen, so wie sie mir mit Annalies geholfen hat.
Ich rücke ihr den Stuhl hinter dem Schreibtisch zurecht, auf dem ich sonst sitze. Sie schaut mich unsicher an. „Sind Sie sicher, dass Sie nicht dort sitzen wollen? Es steht mir nicht zu..."

Ich unterbreche sie bestimmt: „Was Ihnen zusteht und was nicht, entscheide ich in meinem Haus. Und ich würde mich freuen, wenn Sie auf meinem Stuhl Platz nehmen und so viel Fläche meines Schreibtisches nutzen, wie Sie benötigen." Sie schaut überrascht, dann schleicht sich ein Lächeln auf ihre Lippen. „Seit wann sind Sie denn so gut im Herumkommandieren, Orland?", fragt sie verschmitzt. Ich lache. „Sehen Sie, Esther, ich habe sehr viel von Ihnen gelernt."

Sie kommt ohne weitere Einwände um den Tisch herum und lässt sich von mir den Stuhl zurecht schieben, als sie sich setzt. Dann lege ich einen Bogen Papier vor ihr ab, auf dem ich das Alphabet aufgeschrieben habe und erkläre ihr die Funktion von Vokalen und Konsonanten, wie man sie schreibt und gebraucht.
Nach zwei Stunden muss ich feststellen, dass ich Recht behalten habe. Esther ist nicht nur eine sehr gute Gouvernante und Lehrerin, sondern auch eine sehr gute Schülerin. Obgleich die Buchstaben, die sie schon schreiben kann, noch etwas wacklig aussehen, ist sie in der Lage, diese zu unterscheiden und ihrem Klang zuzuordnen.

Die GouvernanteOnde as histórias ganham vida. Descobre agora