Kapitel 27 - Esther

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Orlands Hand landet krachend auf dem Schreibtisch. „Du hast was?!" Annalies sieht mich ängstlich an. Die Unterlippe des armen Mädchens beginnt schon wieder zu bibbern und ich merke, dass für sie das Maß dieses Tages einfach voll ist.
Egal, wie sehr sie Richard Karden hasst, es ist immer schwer, einen Antrag abzulehnen. Es ist nicht absehbar, wie bald sich die Wogen wieder glätten werden. Die Abfuhr wird mit Sicherheit als Beleidigung verstanden werden. Annalies ist jetzt, nach dem schwierigen Gespräch mit dem jungen Mann, nicht mehr in der Lage, sich den Wutausbrüchen ihres Onkels zu stellen.
„Sie hat ihn abgelehnt", wiederhole ich deshalb selbstbewusst ihre Aussage. Der Baron funkelt mich an. „Soviel habe ich schon verstanden. Aber hatte ich nicht klar gesagt, dass ich eine positive Antwort erwarte?! Wir hatten darüber geredet, aber offenbar haben Sie nicht verstanden, dass ich der Vormund von Annalies bin und nicht Sie. Deshalb jetzt hier die ganz offene Frage: Haben Sie sich meinem Wunsch widersetzt oder hat Annalies sich Ihnen widersetzt?"
Ich räuspere mich kampflustig. „Ich erinnere mich nicht, dass wir vorhin zu Ende darüber diskutiert hätten, was für Ihre Nichte das Beste ist. Wenn ich mich richtig entsinne, ist Ihnen Ihre Zeitung wichtiger gewesen. Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass Annalies sehr gut in der Lage ist, Ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, aber ich gebe gerne zu, dass ich sie in der Ablehnung des Antrags unterstützt habe." Orland lässt sich sichtlich wütend in seinem Stuhl zurücksinken. „Ich weiß ja nicht, was Sie unter Unterstützung verstehen, Esther, aber ein junges Mädchen in aberwitzigen Vorstellungen zu beflügeln, gehört für mich nicht dazu."
Ich recke mein Kinn nach vorne. „Orland, ich würde gerne mit Ihnen unter vier Augen darüber sprechen. Sie müssen wissen..." „Verdammt noch mal, ich erwarte, dass meine Nichte sich vor mir rechtfertigt! Es geht hier um Annalies! Sie haben sich hier gar nicht einzumischen, Sie gehören nicht zur Familie und sind nur dazu eingestellt worden, um mein Mündel an ihre Pflichten zu erinnern!"
Ich sauge schockiert die Luft ein. Das schmerzt! Er verweist mich auf den Platz einer Angestellten. Dabei bin ich doch mindestens eine Vertraute für Annalies, wenn nicht sogar für ihn selbst. Die Baroness sieht mich mitleidig an, durch diesen Kommentar scheint es ihr noch schlechter zu gehen, als ohnehin schon. Ich schließe die Augen und kratze all das Selbstbewusstsein zusammen, das ich besitze. Ich habe Annalies versprochen, ihr mit dieser Entscheidung zu helfen. Und das werde ich tun. Ich richte meinen Blick auf den fuchsteufelswilden Baron und sage mit einer Schärfe in der Stimme, die ihn verstummen lässt: „Sie, Baron von Mailinger, haben mich dazu eingestellt, Ihre Nichte zu einer willensstarken Frau mit glänzender Zukunft zu erziehen. Und wenn Sie mit der Art, wie ich diese Aufgabe umgesetzt habe, unzufrieden sind, dann sollten Sie mit mir darüber sprechen. Und zwar sofort! Aber ich glaube nicht, dass die Anwesenheit Ihrer Nichte dafür vonnöten ist!"
Einen Moment lang hat es ihm tatsächlich die Sprache verschlagen. Jetzt habe ich einmal das Gesagte so verdreht, wie es mir passt. Er sucht nach Worten, doch schließlich nickt er Annalies nur kurz zu, als Zeichen, dass sie entlassen ist. Sie kommt seiner Aufforderung erleichtert nach und flüchtet aus dem Studierzimmer. Ich wappne mich für das folgende Gespräch.
„Hören Sie, Fräulein Griffel", beginnt Orland um Beherrschung bemüht. „Ich habe Ihnen freie Hand gelassen bei der Erziehung meines Mündels. Ich habe darauf vertraut, dass Sie wissen, was das Richtige für sie ist. Und es hat ja auch wunderbar funktioniert. Aber ich hätte nicht erwartet, dass Sie Annalies dazu bringen würden, sich meinem Willen zu widersetzen."
Ich verschränke die Arme vor der Brust. „Sie sagen es. Sie haben mir die Erziehung und die Ausstattung und alles Mögliche anvertraut. Weil Sie mir offenbar vertrauen. Aber ich frage mich, wo Ihr Vertrauen in mich jetzt ist. Können Sie denn nicht sehen, dass ich auch das Beste für Annalies möchte? Und können Sie nicht sehen, dass Ihre Nichte erwachsen wird und ihre Zukunft selber in die Hand nehmen will? Annalies hatte ihre Entscheidung bereits getroffen und ihr hat nur der Mut gefehlt. Wenn ich einen Fehler gemacht haben soll, dann ist es der, dass ich sie ermutigt habe, statt sie in eine unglückliche Ehe zu zwingen."
Ich beobachte beunruhigt, wie er erst weiß, dann rot vor Wut wird. „Warum, in Gottes Namen, wollen Sie mich nicht verstehen?! Annalies wird keine andere Zukunft haben können, sie ist unehelich!" Jetzt werde auch ich wieder hitzig. „Wie blind sind Sie eigentlich?", rufe ich unbeherrscht. „Die Avancen dieses jungen Herren gingen allein von der Mutter aus, die ganz genau gesehen hat, dass Annalies ein wohlerzogenes Mädchen mit großem Vermögen in der Tasche ist und dass ihr Sohn irgendwann einmal Baron werden könnte, sollten Sie selber keine Kinder haben! Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie Ihre Nichte von dieser Familie wie Dreck behandelt wurde, aufgrund ihrer Geburt. Es ist schlimm genug, diese Vorwürfe von anderen Menschen zu spüren zu bekommen, aber nicht von der eigenen Familie!"
Orland schnaubt. „Ich bitte Sie, ich habe ihr gegenüber nie auch nur eine Silbe darüber verlauten lassen! Sie weiß ganz genau, wie sehr ich sie liebe! Aber was soll jetzt aus ihr werden? Bis vor Kurzem war sie noch verschrien und nun leidet ihr Ruf darunter, dass sie scheinbar hochmütig eine gute Partie ablehnt!" Ich verschränke die Arme vor der Brust. „Um welchen Ruf geht es Ihnen eigentlich wirklich? Tatsächlich um Annalies'? Ich glaube, es geht Ihnen ganz allein um Ihren Ruf, sonst würden Sie alles dafür tun, Ihre Nichte in ihren Träumen zu unterstützen, statt sie an den Erstbesten zu verschachern!"
„Das ist genug." Orland funkelt mich böse an. „Das muss ich mir von Ihnen nicht anhören. Was für Ziele sollte sie denn haben, wenn nicht eine gute Heirat und einen großen, eigenen Haushalt?" Mir entschlüpft ein trockenes Lachen. „Oh ja, natürlich! Ihr Männer denkt natürlich immer, dass es das Größte für eine Frau ist, wenn ihr Aufmerksamkeit und ein großes Heim geboten wird. Aber darum geht es den wenigsten von uns! Wir fordern uns die Erlaubnis ein, wir selber bleiben zu dürfen und nach höheren Zielen zu streben, als einer Heirat mit einem Mann, dem wir nur als Zierde dienen und den wir insgeheim verachten. Sie sollten Annalies zutrauen, es zu mehr zu bringen, als mit fünfzehn oder sechzehn die Ehefrau eines selbstverliebten Kaufmannsohnes zu werden, der die Geschäfte seines Vaters irgendwann in den Ruin treiben wird! Annalies hat ein wunderbares Wesen, verfügt über ausreichend Kenntnisse und Manieren, um einmal Hofdame zu werden und sich in der Öffentlichkeit zu beweisen." So, nun ist es gesagt. Nun ist Annalies' Zukunftstraum auf dem Tisch.
Orland rauft sich die Haare. Ich höre den bitteren Unterton in seiner Stimme, als er spricht. „Ach, so ist das also. Ich dachte, Sie würden meine Nichte zu einer guten Dame und zukünftigen Ehefrau erziehen, stattdessen setzen Sie ihr den Unsinn vom Rang einer Hofdame in den Kopf. Und wie soll das bitte gehen? Wie soll ich mein Mündel an einen königlichen Hof bekommen?" Ich recke mein Kinn nach vorne. „Ich habe es auch geschafft."
Orland ballt die Hände zu Fäusten. „Ja, Sie! Weil Sie wunderschön und perfekt sind, weil Sie aus einer angesehenen Familie stammen und die Position dazu hatten! Aber Annalies? Ich weiß, dass sie viele Eigenschaften besitzt, die sie empfehlen, aber ganz Arex weiß von dem Skandal um meine Schwester und dem unehelichen Kind. Unser König wird einen Teufel tun und sie zur Hofdame erheben!"
Ich senke den Blick. Natürlich geht er davon aus, dass ich hoch geboren wurde, bei meinem Wissen und Zeugnis. Ich habe ihm nie erzählt, aus was für einer Familie ich komme, wie viel ich erreichen und wieviel mehr ich zerstören konnte.
„Hat es Ihnen jetzt die Sprache verschlagen?", fragt der Baron gereizt. Ich klammere die Hände in mein Kleid. „Nein, Orland. Hat es nicht. Aber vielleicht sollten Sie wissen, dass ich an Ihre Nichte glaube. Und dass sie nur eine Chance braucht." „Sie sagen das so einfach..." „Nein, eben nicht! Ich sage das nicht so einfach! Ich sage es, weil ich noch viel weniger Aussichten hatte, Hofdame zu werden, als Annalies! Oder welche Chance besteht, dass man von einer Halbwaise und Tochter des unbedeutenden Hofschreibers, dessen Haushalt man führt, zu einer der bekanntesten Damen des Königreichs wird?"
Orland klappt die Kinnlade nach unten und er mustert mich ehrlich verdattert. „Das wusste ich nicht." „Sie hätten es wissen können. Allein die Herkunft meines Nachnamens verrät es." Orland erhebt sich von seinem Stuhl und schreitet langsam auf und ab. Es scheint ihn zu beruhigen, denn ich sehe, wie sich seine Gesichtszüge wieder glätten. Und auch meine Wut verraucht langsam. Der Streit hat mich erschöpft. Ich weiß nicht, ob wir auf einen gemeinsamen Nenner kommen können, aber ich hoffe es.
Als Orland wieder spricht, klingt seine Stimme ein wenig verzweifelt. „Trotzdem können Sie nicht erwarten, dass Annalies das gleiche Glück hat wie Sie." Ich nicke. „In der Tat hatte ich außerordentliches Glück. Ich hatte eine willensstarke Fürsprecherin und Mentorin. Aber – mit Verlaub – die hat Annalies auch. Ich werde alles dafür tun, was in meiner Macht steht, werde jeden Kontakt bemühen, der ihr nutzen könnte, auch wenn es mir zutiefst widerstrebt, in meiner Vergangenheit zu rühren. Ich werde all das tun, wenn Sie im Gegenzug versuchen, die Entscheidung Ihres Mündels nachzuvollziehen."

Die GouvernanteWhere stories live. Discover now