Die Gouvernante

By MissOpenBook

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Ein junger Baron. Ein uneheliches Mädchen. Die Chance auf eine neue Zukunft. Esther Griffel ist aus Calia ver... More

Vorwort
Prolog - Martha
Kapitel 1 - Orland
Kapitel 2 - Esther
Kapitel 3 - Orland
Kapitel 4 - Esther
Kapitel 5 - Orland
Kapitel 6 - Esther
Kapitel 7 - Orland
Kapitel 8 - Orland
Kapitel 9 - Esther
Kapitel 10 - Esther
Kapitel 11 - Esther
Kapitel 12 - Orland
Kapitel 13 - Esther
Kapitel 14 - Esther
Kapitel 15 - Orland
Kapitel 16 - Esther
Kapitel 18 - Orland
Kapitel 19 - Esther
Kapitel 20 - Orland
Kapitel 21 - Esther
Kapitel 22 - Esther
Kapitel 23 - Orland
Kapitel 24 - Esther
Kapitel 25 - Esther
Kapitel 26 - Esther
Kapitel 27 - Esther
Kapitel 28 - Orland
Kapitel 29 - Esther
Kapitel 30 - Orland
Kapitel 31 - Orland
Kapitel 32 - Esther
Kapitel 33 - Esther
Kapitel 34 - Orland
Kapitel 35 - Orland
Kapitel 36 - Esther
Kapitel 37 - Orland
Kapitel 38 - Esther
Kapitel 39 - Orland
Kapitel 40 - Orland
Kapitel 41 - Esther
Kapitel 42 - Orland
Kapitel 43 - Esther
Kapitel 44 - Orland
Kapitel 45 - Esther
Epilog - Martha
Nachwort

Kapitel 17 - Esther

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By MissOpenBook

„Heute widmen wir uns ganz einer völlig unterschätzen Kunst: Der Rezitation." Wir befinden uns in der Bibliothek, einem Ort, den ich bisher gemieden habe. Ich fühle mich nicht wohl zwischen Büchern, zwischen all dem Wissen, das ich nicht entziffern kann. Doch zweifellos bietet dieser große Raum das richtige Ambiente für mein Vorhaben.

Baron von Mailinger und seine Nichte haben nebeneinander auf zwei Polsterstühlen Platz genommen. Annalies sitzt gespannt wippend auf der Stuhlkante, ihr Onkel lümmelt sich defensiv in die Lehne. Offensichtlich weiß er nicht, was er von dieser Unterrichtsstunde halten soll. Oder er hat etwas völlig anderes erwartet.

„Worum geht es bei der Rezitation, Annalies?", frage ich und sie beginnt, angestrengt zu überlegen. Der Baron räuspert sich. „Ist das nicht einfach nur Vorlesen?" Ich schüttele den Kopf, während ich langsam vor den beiden auf und ab schreite. „Tut mir leid, Durchlaucht, aber es geht hierbei nicht einfach ums Vorlesen. Rezitieren soll zwei Ziele miteinander vereinen. Der erste Zweck liegt darin, ein bekanntes oder unbekanntes Werk einem Publikum nahezubringen. Ein Gedicht aufzusagen oder ein Drama in verteilten Rollen zu lesen, erfüllt einen Bildungsauftrag. In Gesellschaften schafft es die Grundlage für Diskussionen über den Künstler, die Entstehungszeit oder ein Thema, welches in dem Werk transportiert wird. Rezitation hat also das Potential, einen gebildeten Austausch zu fördern. Der zweite Zweck liegt in der Person, die einen Text rezitiert. Sie hat die Möglichkeit, sich in das beste Licht zu rücken und fremde Worte dafür zu nutzen, sich selbst vorzustellen. Bei Hofe ist es sehr üblich, in kleineren Gesellschaften die Zeit mit Gesang, Tanz oder eben lyrischen und dramatischen Texten zu vertreiben. Wenn ich etwas vorlese, gebe ich kund, wie ich ein Werk interpretiere, welche Gefühle es in mir hervorruft. Und deshalb geht es eben nicht um ein schnödes Ablesen, sondern um Distanz und Nähe, fremde und eigene Gefühle, um einen fiktiven Charakter und um mich."

Annalies runzelt die Stirn. „Können Sie das mal vormachen, Fräulein?" Ich schüttele vehement den Kopf. „Nein, Annalies. Und zwar deshalb nicht, weil du nicht rezitieren sollst, wie ich, sondern wie du es für richtig hältst. Ernst war so nett und hat ein bestimmtes Werk für uns herausgesucht, mit dem wir uns heute beschäftigen wollen." Ich deute auf die Bücher, welche beide schon auf ihrem Schoß liegen haben. Es ist eines der bekannteren Dramen, aus dem ich selbst schon viel rezitiert habe. Zu Beginn meiner Zeit als Hofdame half mir Theodora, die berühmtesten Szenen auswendig zu lernen, später verpflichtete ich Adalmar dazu. Das waren für ihn wohl die nervigsten Stunden des Tages.

„In diesem Drama geht es um Liebe und Feindschaft, beides sind sehr starke Motive und oft sehr schwer zu lesen. Wir beginnen in Akt 2, Szene 2. Annalies, du startest im vorderen Teil bei dem Vers mit dem Schattendunkel." Beide schlagen Sie gehorsam ihre Bücher auf, obwohl ich deutlich sehen kann, dass Baron von Mailinger sich fragt, warum er auch rezitieren muss. Doch vermutlich hätte ich ihn auch lesen lassen, wenn ich keine Analphabetin wäre. Der Tag gestern ist ein Erfolg gewesen, doch das darf nicht im Sand verlaufen. Die beiden müssen immer neu an das anknüpfen, was sich an verwandtschaftlicher Bindung zwischen ihnen entwickelt.

Annalies blättert in den Seiten umher, um die Stelle zu suchen, an der sie beginnen soll und ihr Onkel beugt sich wie selbstverständlich zu ihr und deutet mit dem Finger auf dem richtigen Vers. Ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. Gestern hätte ich ihn vermutlich noch nonverbal darauf hinweisen müssen, seiner Nichte zur Hand zu gehen. Doch inzwischen hat er seine Aufmerksamkeit so weit geschult, dass er die kleinen Momente erkennt, in denen er ihr helfen kann.

Annalies räuspert sich, um alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und rattert dann hinunter: „Wer bist du, der du in mein Selbstgespräch eintrittst vom Schattendunkel..."

Ich unterbreche sie. „Annalies, das lesen wir gleich noch einmal. Und versuche, dich in die Person hineinzuversetzen. Was könnte sie fühlen?" Annalies beißt sich auf die Lippe. „Ich weiß es nicht, Fräulein. Ich kenne den Text nicht." Ich sehe sie eindringlich an. „Du musst den Text nicht kennen. Wirf einen Blick auf das, was vorher passiert. Die Protagonistin redet mit sich selbst, spricht ihre Gefühle offen aus. Und dann merkt sie, dass Sie belauscht wird. Wie würdest du dich da fühlen?" „Vielleicht unsicher? Und ein bisschen peinlich berührt? Ist das so richtig?" Ich zucke mit den Schultern. „Wenn du es so empfindest, dann ist es richtig. Und schau auf die Satzzeichen. Welches Satzzeichen haben wir am Ende des Verses?" Annalies schaut in ihr Buch. „Ein Fragezeichen, Fräulein." Ich nicke. „Gut, aber wenn du vorliest, dann hast nur du den Text vor dir. Die Leute, die dir zuhören, wissen nicht, dass dort ein Fragezeichen steht. Deshalb musst du es Ihnen mit deiner Stimme mitteilen."

Die Baroness nickt eifrig, als hätte sie nun eine Vorstellung davon bekommen, was ich von ihr erwarte. Sie setzt sich aufrechter hin und wiederholt den Vers, dieses Mal als Frage, mit einem unsicheren und naiven Unterton in der Stimme. Ich lächele ihr bestätigend zu und ihre Wangen färben sich rosa vor Stolz.

Baron von Mailinger setzt ein: „Keinen Namen weiß ich, um dir zu sagen, wer ich bin: Geliebte Heilige, mein Name ist mir selbst verhasst, weil er dir feind ist. Hätt ich's schwarz auf weiß, ich würd das Wort zerreißen."

Ich verschränke die Arme vor der Brust. „Durchlaucht, Sie erinnern sich, dass die Art, wie wir rezitieren, viel über uns selbst aussagt. Und so, wie sie gerade gelesen haben, lerne ich Sie als furchtbar gelangweilten Griesgram kennen." Annalies kichert vergnügt. „Wo ist Ihr Gefühl? Ich weiß, dass es existiert, also versuchen Sie, wie Ihre Nichte, sich mit Ihrem Charakter auseinanderzusetzen."

Der Baron blickt unzufrieden auf sein Buch. Annalies legt zögerlich die Hand auf seinen Arm. „Mach Dir nichts draus, Onkel Orland. Bei mir hat es beim ersten Mal auch nicht geklappt. Und du hattest einen viel längeren Text als ich. Schau mal, ich glaube, dein Charakter kann sich selbst nicht so ganz leiden und wünscht sich, jemand anderes zu sein. Vielleicht kannst du ihn traurig, aber trotzdem hoffnungsvoll klingen lassen?"

Gerührt beobachte ich, wie die beiden sich die Betonung erarbeiten. Vor ein paar Tagen hat Annalies sich noch gescheut, ihren Onkel von sich aus anzusprechen. Doch inzwischen scheint sie ihn immer mehr zu mögen, wird selbstbewusster in seiner Gegenwart. Und ich fühle mich so stolz, weil ich meinen Teil dazu beigetragen habe.

Orland von Mailinger wiederholt seine Passage und ich merke, wie viel Mühe er sich dieses Mal gibt. Er hat sich aufrechter hingesetzt und benutzt seine Stimme, als hätte er sein Leben lang rezitiert. Und ich weiß, dass er es tut, weil seine Nichte ihm wichtig ist und er nicht mehr für passiv und unzugänglich gehalten werden möchte.

Ich beobachte, wie die beiden einträchtig ihren Dialog führen. Annalies gewinnt an Selbstbewusstsein und spricht gefühlvoll:

„Wie kommst du her, sag mir, und sag warum?

Die Mauern sind doch hoch und schwer zu klettern,

Und dieser Ort ist Tod, denk, wer du bist,

Wenn wer von den Verwandten dich hier findet!"

Ich habe viele Rezitationen gehört und stelle erfreut fest, dass mein Schützling diesbezüglich nur wenigen Damen bei Hofe nachsteht. Sie hat sofort ein Gefühl dafür entwickelt.

„Beschwingt von Liebe schwang ich mich herüber", setzt Baron von Mailinger ein.

„Denn Liebe macht vor keiner Mauer Halt". Er macht eine kurze Pause, hebt dann seinen Blick und sieht mich an.

„Und was die Liebe kann, wird Liebe immer wagen:

Drum sind Verwandte mir kein Hindernis."

Ich spüre, wie ich Gänsehaut bekomme und meine Knie weich werden. Bilde ich mir das nur ein, oder hat er mich wirklich absichtlich angesehen? Ich bin verwirrt. Über diesen Blick und darüber, wie ich darauf reagiere. Es ist mir doch eigentlich egal, ob Herren mich beachten oder nicht. Was insbesondere er von mir denkt. Das letzte, was ich gebrauchen kann, ist auch nur die geringste Ablenkung von meiner Aufgabe. Mein Leben muss in geordnete Bahnen zurückfinden. Warum nur fühle ich mich von ihm so durchschaut?

Ein Klopfen an der Bibliothekstür unterbricht Annalies in ihrem „Wenn sie dich sehn, sie werden dich erschlagen..." und bringt mich aus meinen Grübeleien wieder in die Wirklichkeit zurück. Ernst betritt den Raum und meint: „Verzeihung, Durchlaucht, ich störe nur ungern. Herr Edwin Karden und seine Gattin sind eingetroffen und bitten um eine kurze Unterhaltung."

Orland von Mailinger seufzt. „In Ordnung. Tut mir leid, Annalies, ich schätze, darum muss ich mich kümmern. Du hast wunderbar rezitiert." Seine Nichte glüht vor Stolz. Er erhebt sich und lässt das Buch auf seinem Stuhl liegen. Im Vorbeigehen lächelt er mir zu und fragt: „Würden Sie womöglich in etwa einer halben Stunde in mein Arbeitszimmer kommen?" Ich nicke erfreut. „Natürlich, Durchlaucht." Während er das Zimmer verlässt, frage ich mich, was er wohl von mir will.


Ihr Lieben,

ich wünsche euch ruhige Tage und ein Frohes Weihnachtsfest sowie einen guten Rutsch ins neue Jahrzehnt! Dies ist mein letztes Kapitel des Jahres 2019, denn ich gehe jetzt mit dem Aktualisieren meiner Geschichte in eine kleine Feiertagspause bis nach Neujahr. 

Ich danke euch für eure vielen lieben Kommentare und Likes, auch wenn ich nicht mehr regelmäßig darauf antworte, weiß ich eure Bestärkung sehr zu schätzen!

Wie ihr sicherlich mitbekommen habt, sind die Textauszüge aus "Romeo und Julia" von Shakespeare (nur damit niemand etwas zu einer mangelnden Textquellenangabe sagt ;) ).

Bis ins neue Jahr!

Eure MissOpenBook


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