Vor ein paar Tagen hatte Mum mich mit den Iván-Neuigkeiten überrascht und bevor ich das verdauen konnte, war gestern Nacht bereits das nächste Familienmitglied an der Reihe, mich zu verblüffen. Fast hätte ich heute aufgeatmet und Gott für das Ende dieser Überraschungsserie gedankt, da klopfte es an meiner Tür.
Dieses Mal war Dad dran.
Er steckte seinen Kopf fast schon schüchtern durch den Türspalt und sah mir für eine Sekunde in die Augen, bevor er seinen Blick auf meinen Laptop senkte.
„Kommst du frühstücken, Carter? Wir sind diesen Samstagmorgen alleine."
Ach, stimmt. Julie spielte heute unsichtbar. Das war dann wohl auch der Grund, weshalb er sich persönlich bei mir meldete.
„Wow, Dad, ich habe fast schon vergessen, wie du aussiehst, so lange ist es her."
Das Zucken seiner Mundwinkel, als ich ihn Dad nannte, konnte er nicht unterdrücken. Mit der Andeutung eines Lächelns stieß er die Tür weiter auf und entschuldigte sich plötzlich.
„Es tut mir Leid, Carter. Die letzten Tage sind... heftig gewesen. Mal ganz abgesehen von dem Stress auf der Arbeit, weißt du genau, weshalb ich mich eher zurückgezogen habe. Das war nicht richtig, das ist mir klar. Aber... Aber ich denke, du verstehst das, oder?"
Ich nickte langsam und klappte meinen Laptop zu. „Ja, klar, Dad. Ich hätte wahrscheinlich nicht anders reagiert und bin dir echt nicht böse."
„Naja, ich hoffe, dass du sowas nie aus meiner Perspektive erleben musst...", er räusperte sich leicht. „Für dich war es aber bestimmt nicht ansatzweise leichter."
Achselzuckend lehnte ich mich in meinem Schreibstuhl zurück und runzelte die Stirn. „Ich finde es einfach nur komisch. Aber irgendwo war es auch erleichternd zu wissen, dass du Mum nicht fremdgegangen bist. Und sie so gesehen ja auch nicht."
Dad wandte den Blick ab und schien nicht ganz zustimmen zu können. „Manche Lügen sind schlimmer als Fremdgehen."
Irgendwo hatte er Recht.
„Aber ich denke mal, wenn ich es von Anfang an gewusst hätte, wäre ich jetzt nicht hier, bei euch. Und der Gedanke missfällt mir sehr."
Er lächelte wieder und nickte in die Richtung der Treppen. „Komm schon, wir reden beim Essen weiter."
„Okay", ich stand auf und folgte ihm aus meinem Zimmer. „Alles passiert aus einem Grund, Dad."
Die Augenbrauen hochziehend betrachtete er mich für eine Sekunde, bevor er langsam nickte. „Ja, Carter, das stimmt wohl."
* * *
Nach dem Essen habe ich mich in Julies Zimmer geschlichen, um nach ihr zu sehen, doch natürlich war sie nicht mehr da. Ein Blick auf mein Fenster reichte, um zu verstehen, was die Dame getan hatte. Ziemlich riskant, da unsere Küche einen direkten Ausblick auf die Terrasse und den Vorgarten bot.
Seufzend setzte ich mich auf mein Bett und öffnete die Schublade meiner Nachtkommode. Da lag noch das stinkende Tagebuch drin und verweste immer mehr. Verdammt eklig.
Das letzte Mal, als ich darin gelesen hatte, hatte ich erfahren, dass Manon auf Frauen stand und der Besitzer des Tagebuchs tatsächlich eher eine Besitzerin war. Danach wurde ich von meiner Mum gestört, da diese mir unbedingt erzählen wollte, dass mein biologischer Vater jemand anderes war. Fühlte sich an, als wäre das schon Jahre her.
Im nächsten Eintrag erwähnt sie Louis' Namen. Sie scheinen sich gut zu verstehen, da er wissen wollte, ob zwischen ihr und Manon alles in Ordnung ist. Ich überflog die nächsten Seiten nur, in denen sie davon sprach, Manon mit einem Kuss getestet zu haben, was aber komplett schief gelaufen ist und sonst geht's um Selbsthass und Suizidgedanken, was mich nicht mehr sonderlich überraschte.
Aber sie lebte. Sie musste leben. Nur Dagny war in letzter Zeit, beziehungsweise im letzten Jahr, gestorben.
Gerade, als ich an sie dachte, erwähnte die Tagebuchautorin plötzlich im nächsten Eintrag ihren Namen:
15.10.2016 01:56 AM
Manchmal frage ich mich, ob ich Dagny nur
ausnutze. Das klingt komisch, ich weiß, aber eigentlich ist mir klar, dass ich das nicht tue. Ich sehe in ihr keinen Ersatz für Manon
Manon kann von niemandem ersetzt werden
Aber Dagny ist auf ihre eigene Art wundervoll. Unverzichtbar als Freundin
Doch ich habe das Gefühl, dass ich sie zu sehr mit meinen Problemen volllabere
Ich sollte zur Abwechslung einfach mal die Klappe halten
Wie kann man jemanden ausnutzen, der gar nicht mehr lebt? Welche Drogen vertickt die denn bitte? Das war doch nicht normal.
Seufzend und verwirrt blätterte ich weiter und wollte eigentlich den nächsten Eintrag überspringen, da stach mir plötzlich mein eigener Name ins Auge. Überrascht stockte ich und begann zu lesen.
21.10.2016 4:07 PM
Ein kurzes Update, das zum ersten Mal nicht meine Wenigkeit betrifft:
Dagny schwänzt immer öfter die Schule. Vielleicht hängt sie auch mit Amor ab
Julies Bruder Carter wohnt seit einer Woche wieder mit seinem Vater bei ihr und deren Mum. Er wirkt ziemlich still auf mich. Und hübsch
Julie hat heute Geburtstag. Manon auch in vier Tagen. Sie und Carter flirten ständig
Wenn es sie glücklich macht, dann freue ich mich für sie. Und für Carter. Beide haben großes Glück. Sie sind so perfekt
Ich kann nicht schlafen. Mein Herz rast ständig
Oh, Scheiße
Jetzt ging es schon wieder um mich
Was soll's
Elaine kocht ständig. Sie ist gestresst. Kinderprobleme
Oh, und
Dagny ist vor 7 Monaten gestorben
Kinderprobleme
Sprachlos starrte ich die Seite an und musste erstmal ein paar Dinge verdauen: Sie kannte mich. Sie findet, dass ich perfekt, hübsch und still bin. Das war jetzt nicht wirklich überraschend.
Die Tatsache, dass Elaine so viel kochen soll, weil sie gestresst ist, aber schon. Ich schluckte schwer und las die Seite erneut. Und nochmal. Drei ganze Male.
Sie war sich bewusst, dass Dagny tot ist. Na wenigstens das.
Langsam und zögerlich löste ich meinen Blick vom Tagebuch und griff nach meinem Handy, welches neben mir lag. Schwerschluckend klickte ich auf Elaines Kontakt und beschloss, sie direkt anzurufen, statt auf eine Nachricht zu warten. Meine Neugier brachte mich um.
Und abgesehen von meiner Neugier verspürte ich noch etwas ganz anderes; Schuld.
Ich hatte Schuldgefühle, weil ich ihr das blöde Tagebuch nicht gegeben hatte. Sie hätte sich um die Person kümmern können, doch stattdessen habe ich das Büchlein in meiner Kommode vergammeln lassen.
Auf meiner Unterlippe kauend dachte ich kurz an unser letztes Gespräch und wie sie sich am Ende verzogen hatte. So merkwürdig. Aber das hier war wichtiger.
Bevor ich einen Rückzieher machen konnte rief ich sie schließlich an und überlegte, wie ich das Thema einleiten sollte. Doch so viel Zeit gab sie mir gar nicht, da sie schon nach fünf Sekunden euphorisch ranging.
„Julie! Wie geht's, wie steht's?"
Ich zog eine Augenbraue hoch und legte den Kopf schief. „Ich bin's... Carter."
„Mir geht's ganz gut", erwiderte sie nur und klang tatsächlich sorglos dabei. „Was ist los?"
„Ähm... Ich muss mit dir reden", meinte ich schließlich nur und runzelte die Stirn.
„Ach, du hast die Bude heute Abend für dich? Wo sind denn deine Eltern und dein nichtsnutziger Bruder?"
Ich grummelte nur leise und verstand. „Ist Louis gerade bei dir?"
„Ja ja, die Jungs zocken hier, während ich zu Mittag koche, da meine Eltern einkaufen sind. Wenn du magst, komme ich in einer Stunde vorbei. Mit meinen Schlafsachen, versteht sich."
„Warte, meinst du Letzteres ernst?"
„Nein, Schatz. Aber ich kann Muffins mit-"
Ein plötzliches Brüllen unterbrach Elaine aus dem Nichts und ließ sogar mich zusammenschrecken. „El! Du gehst nirgendwo hin!"
Sie quietschte leise auf und dann raschelte es kurz. „Wie kannst du überhaupt mit deiner kaputten Nase so laut brüllen?", fragte sie ihn angepisst und schnaubte leise. „Ich bin in einer Stunde bei dir, Julie."
„Hast du mich nicht gehört?", mischte sich der dreckige Hund wieder ein. „Du näherst dich der Queen-Familie nicht, egal ob's Julie oder Carter oder deren kleiner Halbbruder ist."
Mein Blut begann sofort vor Wut zu brodeln. Zornig spannte ich den Kiefer an und hielt mich nur schwer davor ab, was zurück zu brüllen. „Zoff dich jetzt nicht mit dem—", hob ich an, doch das Äffchen schnappte nur empört nach Luft.
„In einer Stunde sind Mum und Dad wieder Zuhause, mal sehen wie du dann brüllst! Außerdem hat es dich nichts anzugehen, wo und mit wem—"
Den Rest bekam ich nicht mehr mit, da sie auflegte. Blinzelnd saß ich da, verdattert und wütend zugleich.
Ich glaube, so langsam entwickelten sich in mir wahrlich romantische Hassgefühle für Louis.