KAPITEL 27
~ May's Sicht ~
Während Marco die Küche am aufräumen war, hatte ich mir Kane und heimlich die Oreos geschnappt und ging mit ihm ins Wohnzimmer.
Ich setzte den schmollenden Kane ab und setzte mich neben ihn.
Als ich ihm die Oreos unter die Nase hielt, blitzten seine Augen glücklich auf und er grinste breit.
"Hab'n?", fragte er mich und ich nickte nur.
Während Kane genüsslich die Oreos aß, schaute ich fernsehen und nur nach zehn Minuten kam Marco wieder.
Kane hatte alle Oreopackungen aufgerissen und die einzelnen Kekse auf dem Couchtisch, griffbereit, falls Mamas Hand ausfährt, damit er sie retten konnte.
"Hey, der hat ja schon die Oreos", bemerkte Marco und ließ sich neben mich auf die Couch fallen.
"Ja, und teilen tut er nicht. Ich hab ihn gefragt, ob er mir wenigsten einen abgibt. Er hat alle feinsäuberlich abgeleckt und meinte, dass ich das vergessen kann."
Marco runzelte die Stirn. "Das kann er doch wieder nur von Melanie haben."
Jaja, Melanie. Marco's große Schwester. Er hatte zwei, also war er das Küken der drei gewesen.
Melanies Motto im Bezug auf Teilen, den sie laut Manuela schon seit sie reden und denken kann verfolgte war:
Als Geschwisterkind habe ich gelernt, meine Süßigkeiten gut zu verstecken, oder vorher anzulecken. Letzteres erhöht die Chance, dass keiner mein süßes essen will. Hoffentlich.
Ungelogen. Melanie hatte sich das sogar als Aufkleber machen lassen und an ihrem Süßigkeitenschrank im Kleiderschrank, was übrigens ein Safe war, drangeklebt.
Und diesen Lebensstil, verfolgte Melanie immer noch. Sie teilte selbst nicht mal gerne mit ihrem Freund.
"Von wem auch sonst", meinte ich.
"Hey, kriegt Papa ein Oreo?", fragte Marco Kane.
"Nein!", kreischte Kane.
"Und Mama?", versuchte ich es nochmal.
Kane blickte genervt zu uns und schob die ganzen Kekse weiter zu sich.
Wo auch immer er seinen alten Mini- Rucksack her hatte. Okay sein Spielzeug flog immer durch die ganze Wohnung, also wunderte mich das jetzt nicht.
Auf jeden Fall stopfte Kane die ganzen Kekse in den Rucksack und verließ somit den Raum.
"Kane, du hast die Krümmel vergessen!", rief Marco hinterher.
"Nein!", schrie Kane.
"Ich denke, wir kriegen heute keinen Oreo mehr?", fragte ich.
Marco blickte zu mir. "Ich denke nicht. Nein."
"Oder doch", meinte ich und schob die Holzkasten unter dem weißen Couchtisch hervor, wo ich meine Oreo-Tupper-Dose bunkerte.
Ich machte die Dose auf und hielt Marco die noch in kleinen Gruppen abgespackten Kekse hin und nahm mir auch eine raus, ehe die Packung wieder in ihrem Versteck zwischen alten Zeitungen und Comics landete.
"Kane, wir haben noch mehr Oreos!", rief Marco. "Und sogar mit Milch. Uiiii, sind die lecker."
Ich konnte mir kein lachen verkneifen, als Kane's Kopf hinter den Türrahmen auftauchte und Marco und mich beobachtete, wie wir die Kekse aßen.
"Auch?", meinte Kane und kam ins Wohnzimmer.
"Nee, sind unsere", meinte Marco und schob sich den nächsten Oreo in den Mund.
Kane blickte hilfesuchend zu mir.
"Nö, du hast deine eigenen. Wir teilen nicht", meinte ich.
"Bitte?", fragte Kane und setzte seinen Dackelblick auf. Bei mir schlug das ja schon mal gar nicht an.
Aber so wie ich es Marco ansah, gab er gleich nach.
Okay, wenn Kane den Dackelblick aufzog, war es tausendmal niedlicher, als das kleine Mädchen aus den Monster AG-Film. Buh, hieß es oder nicht?
"Okay, aber nur einen von Papa", meinte Marco.
Wow. Ganze fünfzehn Sekunden hat er Kane's Dackelblick ausgehalten.
Ich blickte Marco warnend.
"Noch kannst du dich zusammenreißen", murmelte ich, während Kane's grinsen immer breiter wurde und er bereits die Arme ausstreckte.
Das alles hätte man sich mal in Slowmotion vorstellen sollen.
Marco reicht Kane den Keks. Kane's grinsen wird immer breiter, die kleinen Ärmchen wanderten zur Hand mit dem Keks.
Tja. Und dann, dann kam ich. Die Irre, die "Neeeein", schreiend aufsprang, direkt auf Marco und ihn den Keks aus der Hand schlug, der daraufhin an der Wand abprallte. Krümmelstücken flogen herum, nachdem der Keks die Kollision mit der Wand hinter sich hatte und hinter der Couch landete.
"May, zum Teufel?", fragte Marco, der unter mir lag, während Kane mit offenen Mund zu uns guckte.
"Regel Nummer eins", flüsterte ich in Marco's Ohr. "Gib niemals, niemals, Kane's Dackelblick nach. Nie-mals."
"Okay?", fragte Marco sichtlich verwirrt. "Kein Grund gleich so angeflogen zu kommen und mich umzunieten."
"Ich hoffe es, es ist dir jetzt ne Warnung", meinte ich.
"Ja, verstanden", meinte Marco.
Ich blickte Marco mit zusammengekniffenen Augen an.
"Was? Ich hab's verstanden. Fußballer-Ehrenwort."
"Nein", meinte ich und runzelte die Stirn, als ich etwas leicht hartes an meinem Bauch spürte. "Bitte sag mir, dass das die Oreos sind?"
"Hm", machte Marco. "Was ist, wenn ich nö sage?"
Er grinste und wie er grinste.
"Kannst du dich nicht einmal zusammen reißen?", zischte ich und stand von Marco auf, um Kane aus dem Wohnzimmer zu bringen, damit er das nicht mitbekam.
Okay, erwischt, vielleicht war: ich bringe Kane aus dem Zimmer, auch nur ein Vorwand, weil mir das irgendwie schon ein ziemlich unangenehm war. Nicht, dass ich das nicht von Marco während der Beziehung gewöhnt war. Aber jetzt, nach all den Jahren.
Mensch. Seit wann war ich so verklemmt? Und wieso wurde mein Kopf rot und brannten meine Wangen?
Keep calm, May. Just keep calm.
Ich setzte Kane auf seinem Bett an und er blickte mich fragend an.
"Was?", fragte ich ihn und für mir durchs vor Hitze kochende Gesicht.
"Nichts", meinte Kane schulterzuckend.
Ich ging zum Fenster, um es aufzureißen.
"Ganz schön warm hier, huh?"
"Nee", meinte Kane sichtlich verwirrt.
"Anscheinend kann ich dich ja immer noch aus der Fassung bringen", hörte ich Marco fröhlich rufen.
Keine Sekunde später stand er im Kinderzimmer und kam direkt auf mich zu.
"Haha", meinte ich und blickte ihn fragend an.
Grinsend hielt er mir die Packung Oreos unter die Nase. "Es waren nur die Oreos", lachte er munter.
"Aha", meinte ich unbeeindruckt und schaute wieder auf dem Fenster.
"Zur Info, ich bin sechsundzwanzig. Ich hab das unter Kontrolle", stellte Marco klar. "Meistens, auf jeden Fall."
"Könnten wir das Thema wechseln?", fragte ich.
"Klar, wenn du dann wieder eine normale Farbe im Gesicht hast und deine Sommersprossen nicht mehr explodieren, dann ja."
Ich boxte Marco in den Magen und er stöhnte auf. "Aua", meinte er.
"Orjo's!", rief Kane.
"Hey!", rief Marco und fuhr wie ich herum. Mit Rucksack und der anderen Oreopackung lief Kane aus dem Zimmer.
"Lass ihn", meinte ich, als Marco hinter her lief.
"Das sind aber meine!", rief dieser und stürmte hinter her.
"Kindskopf!", murmelte ich und blickte wieder aus dem Fenster und versuchte das gemeckere von Kane und Marco zu ignorieren, bis einer von beiden anfing zu weinen. Und es war nicht Kane gewesen.
"Was ist denn?", fragte ich und kam aus dem Zimmer. Marco lag in Embryohaltung im Wohnungsflur und hielt sich den Schritt.
Na das hatten wir doch schon mal.
Äderchen traten auf Marcos knallroten Gesicht hervor, Tränen liefen in die Wangen runter.
"Hol Erdbeeren zum kühlen", murmelte er.
"Kauf dir endlich 'nen Eierschutz, dann musst du das nicht mehr befürchten", meinte ich trocken und ging in die Küche, um aus dem Gefrierfach ein Kühlkissen rauszuholen, ehe ich zu Marco ging und mich neben ihn kniete.
Als ich Geräusche aus dem Badezimmer hörte, war mir klar, dass Kane sich dort versteckte und weiter über die Oreos herfiel.
"Wieso passiert das eigentlich immer mir?", fragte Marco wimmernd.
"Weiß ich nicht", meinte ich. "Wie hat er das hinbekommen?"
"Er hat 'ne ziemliche Linke", murrte Marco und setzte sich auf. "Es tut aber nicht so weh, wie der Schuss."
"Na. Gott sei Dank."
Marco rappelte sich auf und schmiss sich im Wohnzimmer auf die Couch.
"Hier", meinte ich und hielt ihm das Kühlkissen hin.
"Danke", meinte Marco und nahm es entgegen.
Ich ließ Marco alleine um mir Kane vorzuknöpfen, der in der Badewanne saß und sich gerade den nächsten Oreo in den Mund schob. Er blickte zu mir.
Ich nahm in den Rucksack mit den Keksen weg und setzte mich daneben auf den Badewannenrand.
Kane wimmerte und streckte die Arme aus.
"Kane, nein!", meinte ich streng. "Dein Vater hat wegen dir Aua. Du kannst das doch nicht machen. Das tut weh. Papa weint. Geh dich entschuldigen. Aber sofort."
Doch er wollte nur seinen Rucksack.
"Nein, du kriegst die erst wieder, wenn du dich bei Papa entschuldigt hast", meinte ich und stand auf.
Ich hob Kane aus der Badewanne und schob ihn in Richtung Wohnzimmer, da er sich dagegen wehrte.
"Her damit!", sagte ich und nahm ihn den angebissenen Oreo weg.
"Ey!", meinte er.
"Entschuldige dich. Aber sofort!", sagte ich strenger und zeigte auf Marco, der sich unter einer Wolldecke verkrochen hatte.
Kane stampfte trotzig auf Marco zu und tippte auf seinen linken tätowierten Arm, der freilag.
"Papi?", fragte Kane vorsichtig nach.
"Hm", grummelte Marco.
Kane schnitt eine leichte Grimasse und zog Marco die Decke vom Gesicht.
"Papi", versucht es Kane erneut und blickte zu mir.
"Entschuldige", meinte ich.
Kane wandte sich wieder zu Marco. "Suldigung", sagte Kane.
Dann wandte er sich wieder zu mir und streckte fordernd die Hand aus. "Orjo's, jetzt!"
"Als ob", schnaubte ich. "Diese Kekse machen dich zum Teufel in Person."
Kane blickte hilfesuchend zu seinem Vater, dieser zuckte nur mit den Schultern und zog die Decke über seinen Kopf.
"Ah!", kreischte Kane sauer, stampfte mit dem Fuß auf den Boden auf und verließ das Wohnzimmer.
Ich ging in die Küche, um die Oreos in eine Tupperdose zu tun und steckte die Dose in den oberen Süßigkeitenschrank, ehe ich den Rucksack ausklopfte und fallen ließ. Vor Schreck. Ich hatte vergessen, das Fenster zu zu machen und nun hatte Kane seiner Mini-Couch darunter geschoben und zog sich an der Heizung auf die Fensterbank, unter dem Fenster.
Ruhig bleiben, May. Ruhig bleiben.
Das bringt nichts panisch hinzulaufen. Gar nichts.
"Was?", fragte Marco, der aus dem Wohnzimmer zu mir blickte.
Ich sagte nichts und stürmte auf Kane zu, der auf der Fensterbank stand.
Auch wenn er sich am kleineren Fenster festkrallte, wäre er runtergestürzt, das hätte ich mir nie verzeihen können.
Ich hatte mir Kane geschnappt und an mich gedrückt, ehe ich das Fenster zumachte.
"Mach, das nie wieder", murmelte ich und drückte Kane einen Kuss auf die Stirn. Es war meine schuld. Ich hätte nicht das Fenster auf lassen dürfen.
Ich setzte mich zu Kane, der anfing zu weinen. Das war vermutlich der Schock und das er nicht wusste, was hier gerade vor sich geht.
"Ist das wegen den-", fragte Marco der mit der Wolldecke um seiner Hüfte gewickelt ins Zimmer kam.
Ich blickte zu ihm und schüttelte nur meinen Kopf.
"Nein", murmelte ich und drückte Kane näher an mich heran. "Ich hatte das Fenster ausgelassen und er ist auf die Fensterbank geklettert-"
Marco sog die Luft zwischen den Zähnen ein. Ich hätte damit gerechnet, dass er mir Vorwürfe machte und zwar gewaltige, weil ich das verdient hätte, da mein Sohn fast aus dem Fenster geflogen wäre.
Aber so war Marco nicht. Er kam zu uns und setzte sich neben mir aufs Bett.
"Mach dir keinen Kopf", meinte er und legte einen Arm um mich herum und zog mich zu sich. Seine andere Hand legte er auf meine Hand, die auf Kane's Rücken bettete.
Kane kam vom Schock wieder runter und vergrub seinen Kopf in meiner Halsbeuge.
"Meine Orjo's?", wollte Kane wissen und blickte Marco und mich fragend an.