Kapitel 40

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Drei Tage später

Es hatte nur eine Nacht gedauert, bis die meisten Dorfbewohner wieder ihrem gewöhnlichen Leben nachgingen. Aber na ja, in einem Dorf voller Werwölfe und Vampire war nichts anderes zu erwarten gewesen. Der einzige Unterschied war, dass ein paar neue Kinder die Schule besuchten und am Stadtrand zusätzliche Häuser errichtet wurden, um den ehemaligen Spinnenleuten ein Zuhause zu bieten. Dass alles so einwandfrei funktionierte, überraschte mich ehrlich gesagt noch immer.

Meine Theorie: Das war Mels Verdienst. Allzu viel hatte ich in den letzten zwei Tagen nicht von ihr mitbekommen – nur, dass sie anscheinend eine sehr intensive und ziemlich lange Diskussion mit ihren Eltern geführt hatte, die für das Schicksal der Spinnenleute maßgeblich gewesen war. Jedenfalls hatte mir Maude das so erzählt.

Nicht für alle ging das Leben vollkommen gleich wie zuvor weiter – zumindest nicht für mich.

„Blue, sollten wir das nicht lieber gemeinsam..." Ehe ich weitersprechen konnte, hob Blue eine Umzugskiste hoch, welche bestimmt genauso viel wiegen musste wie sie selbst. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihr über die Treppe hinterherzulaufen, dann durch den Flur und nach draußen, wo bereits der Umzugswagen stand. Die beiden Männer, die eigentlich beim Transport der Kisten helfen sollten, starrten Blue mit großen Augen an, als sie die Kiste abstellte und sich aufrichtete.

„Gern geschehen", sagte sie mit einem Zwinkern und verschwand zurück nach drinnen.

Noch war ich ehrlich gesagt nicht ganz schlau aus ihr geworden. Dadurch, dass sie klein war und große, unschuldige Augen hatte, wirkte sie fast harmlos. Gar nicht so, als könnte sie sich in eine tödliche Riesenspinne verwandeln. Allerdings befürchtete ich, dass sie es faustdick hinter den Ohren hatte.

Ich blieb draußen stehen und beobachtete die Umzugsleute dabei, wie sie ein paar Kisten herumschleppten. Drei Tage waren mir eindeutig zu kurz, um alles zu verarbeiten. Ich musste immer noch an Arac denken. Was er wohl machen würde, wenn er den Kampf überlebt hätte?

Erneut kamen die Umzugsleute nach draußen. „So, das wäre die letzte Kiste", sagte einer von ihnen und schloss die Klappe zum Laderaum.

Wenig später traten meine Eltern und Blue aus dem Haus. Ich sah, wie meine Mutter noch ein paar leise Worte mit meinem Vater wechselte und dann Blue in die Arme schloss. Die kurze Zeit hatte ihr schon gereicht, um Blue liebzugewinnen. Nachdem ich ihr ihre Geschichte erzählt hatte, war meine Mutter sofort dazu bereit gewesen, sie aufzunehmen.

Ich betrachtete die drei aus der Entfernung. Es war immer noch etwas schwer zu glauben, dass meine Mutter wegziehen würde. Aber na ja, so seltsam es sich auch anfühlte – das war es nun einmal, was bei einer Scheidung in den meisten Fällen passierte: Einer der Ehepartner zog aus.

Mein Vater würde hierbleiben – das Haus lief auf seinen Namen und offiziell war er ja weiterhin der Polizeihauptmann dieses Kaffs. Auch wenn ich mich langsam fragte, ob er überhaupt ein Viertel von dem mitbekam, war hier alles los war. Meine Mutter hingegen würde in die Stadt zurückkehren – hier gab es keine Möglichkeit für sie, zu arbeiten, und so würde sie näher bei meinem Bruder leben. Noch dazu hatte sie einen vielversprechenden Job in einem Labor angeboten bekommen, den sie annehmen wollte.

Kurz hob ich die Hand und wollte zu den letzten Überresten der Bisswunden an meinem Arm greifen, welche unter meiner Jacke in eine Schicht Verband gewickelt waren. Im letzten Moment bremste ich mich selbst.

Als meine Mutter zu mir trat, schluckte ich schwer.

„Lina, mein Schatz", sagte sie und musterte mich mit besorgter Miene. „Bist du dir sicher, dass du nicht mitkommen willst? Ich weiß, dass dir der Umzug hierher nicht leichtgefallen ist. Wenn du also lieber ganz zurück nach Hause willst, ist das deine Chance."

Ich schüttelte den Kopf. „Ich bleibe hier." Auch, wenn es sich vielleicht seltsam anhörte, war dieses neblige Dorf mit all seinen übernatürlichen Einwohnern irgendwie mein neues Zuhause geworden. So sehr, dass ich nicht einmal mehr mein altes Lieblingscafé vermisste.

Meine Mutter nickte und drückte meine Hände. „Solltest du dich umentscheiden, kannst du jederzeit nachkommen. Und du kannst immer anrufen, wenn du irgendetwas brauchst. Nur, weil dein Vater und ich uns scheiden lassen, bedeutest du uns nicht weniger. Wir lieben dich beide."

Ich versuchte, ein Augenrollen zu unterdrücken. Diesen Satz hatte ich in den letzten Tagen tausendmal gehört. „Ich weiß", sagte ich mit einem bestimmten Nicken. Ehe meine Mutter weitersprechen konnte, kam ich ihr zuvor. „Und ja, ich werde dich regelmäßig anrufen und dir erzählen, was hier im Dorf so los ist."

Kurz sah es aus, als würde meine Mutter noch etwas sagen wollen, doch stattdessen zog sie mich in eine feste Umarmung, die ich erwiderte. „Versprich mir, dass du gut auf dich aufpasst", sagte sie.

„Ich verspreche es."

„Und keine weiteren Kämpfe, verstanden? Das überlässt du den Werwölfen und Vampiren."

„Ich ... werde mich bemühen."

Als meine Mutter mich losließ, glänzten Tränen in ihren Augen. „Ich habe dich lieb, mein Schatz."

„Ich dich auch", murmelte ich leise.

Das Lächeln meiner Mutter wurde breiter. Erneut zog sie mich in eine Umarmung, die so fest war, dass ich beinahe keine Luft bekam.

Als sie mich endlich wieder losließ, hatte ich das Gefühl, sämtliche meiner Organe wären zerquetscht worden. „Gute Reise", brachte ich keuchend hervor.

Meine Mutter lächelte und nickte. Sie ging zu den Umzugsleuten und stieg zu ihnen in den Wagen. Der Fahrer startete den Motor und ich hob die Hand. Ich winkte so lange, bis meine Mutter über die Schotterstraße verschwunden war.

„Alles okay?", hörte ich Blue fragen, welche auf einmal neben mir auftauchte und sich bei mir einhakte.

Ich nickte. „Mir geht's gut." Ich machte eine kurze Pause. „Tja ... dann sind wir jetzt wohl nur noch zu dritt." Meine Stimme musste leicht belegt geklungen haben, denn Blue drückte tröstend meine Hand.

„Wir sollten lieber hineingehen – langsam wird es kalt", sagte sie nach einer Weile und löste sich von mir.

Ein paar Sekunden lang blieb ich noch draußen stehen. Dann ging ich zurück zum Haus. Als ich nach der Türklinke griff, atmete ich einmal tief durch. Ein kleines Lächeln kehrte auf meine Lippen zurück.

Ich öffnete die Tür und trat ein. 

Die Bewohner von Harrowville (Band 1: Spinnen) | Wattys 2022 ShortlistWo Geschichten leben. Entdecke jetzt