Kapitel 2

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Am nächsten Morgen war von meiner guten Laune nichts mehr übrig. Als mein Wecker läutete, hätte ich ihn am liebsten gegen die Wand geworfen. Stattdessen knallte ich mit der Handfläche darauf und richtete mich auf. Ein gequälter Laut kam über meine Lippen. Wer war bitte auf die bescheuerte Idee gekommen, Schulen sollten vor acht Uhr beginnen? Das war Folter! Ich hatte ein Recht auf ausreichend Schlaf!

Gestern war ich extra früh schlafengegangen, um heute für meinen ersten Schultag fit zu sein. Fast hätte das auch funktioniert - ich war recht bald eingeschlafen. Irgendwann gegen Mitternacht war es losgegangen: Draußen heulten die Wölfe, Tiere aller Art machten die seltsamsten Geräusche, und erneut hatte ich mir eingebildet, jemanden schreien zu hören. Diesmal so eindeutig, dass ich sogar meinen Vater angerufen hatte, der heute Spätdienst auf der Polizeistation geschoben hatte. Aber anscheinend war im Wald alles in Ordnung gewesen. Das war es zumindest, was er mir gesagt hatte.

Ich nahm eine schnelle Dusche, danach schlurfte ich nach unten in die Küche, wo mein Vater bereits in Uniform stand. Wie er nach so wenigen Stunden Schlaf frisch und munter sein konnte, verstand ich bis heute nicht. Stumm ging ich an ihm vorbei und ließ mir einen Kaffee hinunter.

„Wirklich, Linchen?", fragte mein Vater. „Das viele Koffein ist nicht gut für einen jungen Körper."

„Weißt du, was meinem Körper noch nicht guttut? Schule."

Er schüttelte bloß den Kopf und seufzte, als ich drei Löffel Zucker und Milch in den Kaffee schüttete und alles auf einmal hinunterstürzte.

Zehn Minuten später saß ich im Auto neben meinem Vater und sah aus dem Fenster. Alles, was mich noch wachhielt, war die Musik, die ich über Kopfhörer in voller Lautstärke hörte. Während es gestern noch angenehm warm gewesen war, lag heute tiefer Nebel über dem gesamten Dorf und ich hatte schon gefroren, als ich nur aus dem Haus getreten war.

Ich wandte den Blick vom Fenster ab und starrte den Bildschirm meines Handys an. Noch immer hatte ich keine neuen Nachrichten. Okay, anscheinend war ich wohl allen egal. Oder es lag daran, dass die Verbindung hier so schlecht war, dass keine Nachrichten durchkamen. Eines stand jedenfalls fest: Wenn das in den nächsten Tagen so bleiben würde, würde ich damit anfangen, Briefe zu schreiben. Meine Handschrift war zwar nahezu unleserlich, aber das war besser als nichts - falls es hier überhaupt ein Postamt gab.

Erst, als mein Vater beinahe schon schrie, merkte ich, dass er mit mir sprach. Ich nahm meine Kopfhörer ab. „Was hast du gesagt?"

„Ob du für deinen ersten Schultag bereit bist, wollte ich wissen."

Ich zuckte mit den Schultern und blickte in die andere Richtung. So ganz hatte ich ihm noch nicht verziehen, dass wir von einem Tag auf den anderen einfach so umgezogen waren.

Ich hörte ihn seufzen. „Glaub mir, Linchen, das ist das Beste für uns alle."

„Könntest du aufhören, mich so zu nennen? Ich bin kein kleines Kind mehr." Mein Vater nannte mich Linchen, seit ich mich erinnern konnte. Nur wurde es langsam irgendwie peinlich - vor allem, wenn es jemand hörte und dann den Spitznamen ebenfalls verwendete.

Das Auto kam auf einem Parkplatz zu stehen.

„Viel Spaß heute", sagte mein Vater und ich presste die Lippen aufeinander. Zu gerne hätte ich eine schnippische Antwort gegeben, aber immerhin hatte er mich zur Schule gebracht.

„Danke", murmelte ich also und stieg schnell aus, ehe er noch etwas sagen konnte.

Ein paar Meter von mir entfernt ragte das Schulgebäude in die Höhe. Es war bestimmt dreistöckig und im Vergleich zu den meisten Gebäuden in der Innenstadt nicht aus Backstein, sondern aus weiß gestrichenem Beton. Das Dach war vollkommen flach - ob man es betreten durfte? Obwohl es nicht sonderlich ausgeschmückt war, wirkte das Gebäude nicht allzu abstoßend, denn es hatte große, rechteckige Fenster, hinter denen ich, wenn ich die Augen zusammenkniff, schon die ersten Schüler sitzen sah. Ein Wunder eigentlich, dass in so einem Kaff so viele Jugendliche lebten.

Die Bewohner von Harrowville (Band 1: Spinnen) | Wattys 2022 ShortlistWhere stories live. Discover now