Kapitel 20

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Mel

Mel lag in ihrem Bett und langweilte sich. Als Werwolf im Krankenhaus zu sein war nicht nur nervig, sondern vor allem auch unpraktisch. Es hatte mehrere Versuche gebraucht, bis die Ärzte es geschafft hatten, eine Leitung zu legen – was daran lag, dass ihr Körper die kleine Einstichwunde ständig hatte heilen wollen. Sollte er sich doch lieber auf ihre verdammte Bisswunde konzentrieren! Lange würde es nicht mehr dauern, bis alles abgeheilt war, aber dankbar für die Schmerzmittel war Mel trotzdem. Auch wenn sie die zehnfache Dosis benötigte, da sie diese viel zu schnell wieder abbaute.

Irgendwo draußen hörte sie Schritte. Das mussten Linas Eltern sein. Jared hatte ihr vorhin gesagt, dass Lina ebenfalls im Krankenhaus war – und er hatte ihr den Rest der Geschichte erzählt. Dass sie einfach losgezogen waren, um den Typen aufzuspüren. Am liebsten hätte Mel sie alle dafür angeschrien – aber dann wäre sie nicht besser als ihre Mutter, welche gestern Abend noch bei ihr gewesen war. Eine Stunde lang hatte sie sich fürchterlich aufgeregt und versprochen, den Vampir zu finden, der es gewagt hatte, Mel zu beißen. Sämtliche Erklärungsversuche, dass es kein Vampir gewesen war, waren wirkungslos geblieben. Aber so war ihre Mutter nun einmal. Als eine der beiden Anführer des Rudels verstand sie meist nur ihre eigene Meinung und sonst gar keine.

Mel seufzte. Jetzt hörte sie, wie die Tür erneut aufging. Bestimmt waren das Jake und Jared. Die beiden mussten müde sein – immerhin waren sie die ganze Nacht lang wachgeblieben.

Ach ja, und Maude. Mel presste die Lippen aufeinander. Seit der Party hatte Maude kaum mehr ein Wort mit ihr gesprochen und langsam reichte es ihr. Ein einfaches Nein hätte genügt, aber gar nichts sagen und weglaufen war niveaulos. Zumindest für eine angeblich ach so stolze und furchteinflößende Vampirin.

Eine Weile lang blieb Mel alleine in der Stille. Auf einmal klopfte es an der Tür. War es schon Zeit fürs Mittagessen?

Die Tür schwang auf und Mel spannte sich augenblicklich an, als Maude den Raum betrat. „Ich, ähm ... hi", sagte sie, als sie die Tür hinter sich schloss. Zögernd trat sie ein paar Schritte näher.

Mel rollte mit den Augen. „Was willst du?", fragte sie und versuchte dabei, so abweisend wie möglich zu klingen.

„Ich wollte eigentlich nur ... reden", sagte Maude.

Mel hob eine Augenbraue. „Jetzt bin ich dir also wieder gut genug, dass du mit mir redest. Na los, sag schon, was brauchst du?"

„Ich ... nichts", erwiderte Maude leise. „Ich wollte nur über das reden, was zwischen uns ... passiert ist, und na ja, ich..."

„Schon okay", unterbrach Mel mit einem Schnauben. „Du hast ziemlich eindeutig klargemacht, was du davon hältst. Keine Sorge, ich werde nie wieder auch nur versuchen, dich zu küssen."

„Was?" Maude schüttelte den Kopf. „Nein, das ist nicht..."

Mel rollte mit den Augen. „Wie gesagt, es ist okay. Du kannst gehen." Was dachte Maude überhaupt? Dass sie sich ewig darüber Gedanken machen würde? Ganz sicher nicht! Zumindest versuchte sie es.

„Ich..." Maude wirkte auf einmal seltsam klein im Raum und Mel hatte Mühe damit, ihre Schuldgefühle hinunterzuschlucken. Sollte Maude sich ruhig ein bisschen schlecht fühlen!

„Wahrscheinlich ist es sowieso besser so", schnaubte Mel. „Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, was ich mir überhaupt dabei gedacht habe! Du bist eine Vampirin, und noch dazu keine allzu beliebte bei den Werwölfen. Das hätte sowieso niemals funktioniert."

Eine unangenehme Stille legte sich über den Raum. Mel schluckte schwer. Irgendwie hatte sie das Gefühl, zu viel gesagt zu haben.

Zumindest sah Maude nicht mehr so niedergeschlagen aus. Ihre Züge glichen einer kalten Maske. „Tut mir leid", sagte sie, doch ihre Stimme klang eisig. „Ich weiß auch nicht, was du dir dabei eigentlich gedacht hast." Sie machte auf dem Absatz kehrt.

Als die Tür hinter ihr mit einem Krachen zuflog, wäre Mel beinahe zusammengezuckt. Mit einem Seufzen sank sie tiefer in ihre Matratze. Eigentlich sollte es sich erleichternd anfühlen, mit Maude gesprochen zu haben. Stattdessen kam sie sich mies vor. Und nicht nur, weil sie Maudes Gefühle verletzt hatte. Da war dieses leichte Stechen in ihrem eigenen Brustkorb, dieses unsichtbare Band, das sie weiterhin in Richtung Maude zog. Sie war bereits in zwei Beziehungen gewesen, aber das hier war neu.

Und es machte ihr ein wenig Angst. War es das, was ihre Eltern empfunden hatten, als sie sich nähergekommen waren? Beziehungen unter Werwölfen waren oft anders als zwischen normalen Menschen. Ihre Mutter sagte immer, ein Werwolf könnte sofort spüren, wenn er den richtigen Partner für den Rest seines Lebens gefunden hatte.

Mel stöhnte und schob ihre Gedanken beiseite. Das war doch lächerlich! Es hatte noch nie ein solches Band zwischen Vampiren und Werwölfen gegeben! Warum hatte sie sich nicht einfach von Maude ferngehalten?

Seufzend stand Mel auf. Sie brauchte dringend ein wenig Ablenkung.

Für ein paar Stunden gelang es ihr, sich mit den ganzen sechs Fernsehsendern zu unterhalten, die der alte Fernseher in ihrem Zimmer zu bieten hatte. Irgendwann, als sie die Hälfte der Werbungen schon auswendig konnte, reichte es ihr. Sie brauchte dringend einen Kaffee. Also stand sie auf, schlurfte aus ihrem Zimmer und die Treppe nach unten bis zu dem Gemeinschaftsraum, in dem ein Kaffeeautomat stand.

Der Raum war beinahe leer. Nur zwei Leute standen in der Nähe des Automaten, jeweils mit einer Tasse Kaffee in den Händen. Warte, waren das nicht Linas Eltern?

„Denkst du nicht, wir sollten es ihr sagen?", fragte Linas Vater gerade. Er hatte die Stirn gerunzelt.

Mel hielt inne und machte ein paar Schritte zurück. Noch hatten die beiden sie nicht bemerkt, und mit ihrem Werwolfgehör konnte sie auch aus der Entfernung problemlos mithören.

„Wieso sollten wir?", erwiderte Linas Mutter. „Es würde sie nur grundlos beunruhigen."

„Ja, aber ... sie verdient die Wahrheit, findest du nicht? Irgendwann wird sie es sowieso herausfinden, denkst du nicht?"

Eine kurze Schweigepause. Mel presste die Lippen aufeinander. Sprachen die beiden gerade von Lina? Und was sollte das denn bedeuten?

„Ich bin dagegen. Sie ist noch so jung."

„Genau deswegen sollten wir es ihr sagen! Sie gerät ständig in Gefahr – wir wissen beide, wonach diese Bisswunde ausgesehen hat."

Mel hielt inne. Warte, was? Sie erstarrte. Jetzt musste sie daran denken, was Jared ihr erzählt hatte. Dass Linas Wunde keine Spuren von Gift aufwiesen. Und dass die klebrigen Fäden ihr nichts anhaben konnten.

Linas Mutter seufzte hörbar. „Können wir später darüber reden? Ich will nach Hause, und du weißt ja, wir haben für heute noch viel zu tun."

Als Mel Schritte hörte, zog sie sich ans Ende des Gangs zurück. Aus der Entfernung starrte sie Linas Eltern hinterher. Was war das denn gerade gewesen? Gab es irgendetwas, das sie über Lina wissen sollte?

Mit einem Kopfschütteln trat sie an den Automaten. Anstelle von Kaffee entschied sie sich letztendlich doch für einen Kakao. Und nahm dann noch einen Kaffee mit, allerdings nicht für sich selbst. So wie es aussah, musste sie mit Lina reden. 

Die Bewohner von Harrowville (Band 1: Spinnen) | Wattys 2022 ShortlistWo Geschichten leben. Entdecke jetzt