𝟜𝟘𝟡𝟡 𝕋𝕒𝕘𝕖 𝕕𝕒𝕟𝕒𝕔𝕙

Start from the beginning
                                    

Ich bleibe kurz stehen, um ihn genau zu inspizieren. Er sieht anders aus. Sein Gesicht ist kantiger, leichte Bartstoppeln zieren seine komplette untere Gesichtshälfte und auch wenn ich seine Statur nicht als dick bezeichnen würde, hat er doch einige seiner Muskeln verloren.

Es bleibt dennoch außer Frage, dass er es ist. Nicht nur der Name passt. Er besitzt dieselben haselnussbraunen Haare, die im damaligen Stil immer noch kurz geschoren sind. Seine Kleidung ist schlicht und elegant, wie früher, wodurch man annehmen könnte, er kauft nur die besonders teueren Marken.

Trotz des gefrorenen Bluts in meinen Adern zwinge ich mich, weiterzugehen, mir einen Stuhl zu suchen und aus sicherer Entfernung zu Luan im hinteren Bereich der Klasse Platz zu nehmen. Während ich das erledige, spüre ich, wie auch sein Blick auf mir liegt.

Vermutlich denkt er gerade dasselbe wie ich. Ein Studienseminar umfasst so unzählig viele Schulen, wie kann es da sein, dass ausgerechnet wir aufeinandertreffen? Die für mich wichtigere Frage: Warum arbeitet Luan überhaupt hier? Er will Schülern helfen? Er? Das strotzt nur so vor Ironie.

›Nein, Peterchen. Ärgere nicht die Lisa. Mobbing ist böse. Ich habe zwar selbst nie was anderes gemacht, aber das wissen ja nur die Schüler und nicht die Lehrer, die mir meine Noten geben.‹

Ich könnte kotzen.

Obwohl sämtliche Blicke im Moment auf mir liegen, nehme ich doch nur seinen wahr. Das war schon immer so. Und am liebsten würde ich bei der Vorstellung, wie viel Macht er noch über mich besitzt, laut losschreien. Aber trotzdem unternimmt mein Körper nichts anderes als damals schon: Er ignoriert ihn gekonnt.

Die Anspannung, die ich bei ihm wahrnehme, spüre ich auch in meinen Knochen. Steif lasse ich die Lehrertasche von den Schultern gleiten. Den Stuhl habe ich so weit wie möglich und so nah wie nötig, mit zwei Meter fünfzig Abstand, neben ihm abgestellt, um nicht unhöflich zu erscheinen. Selbst zu einem Nicken ringe ich mich ab, das er nicht erwidert.

Ich nehme die Maske ab, öffne meine Tasche und hole den Hospitationsbogen hervor. Erst mit dem Absetzen des Stifts höre ich von der Seite ein gedämpftes »Hallo«. Statt das Datum zu Ende zu schreiben, zuckt mein Kopf nach rechts. Ich kann gar nicht anders. Er starrt mich ebenfalls an.

Was habe ich verbrochen, um das zu verdienen? Wie soll ich das nächste Jahr in dieser Klasse unterrichten können, wenn mir dabei ständig Luans belustigter Blick im Nacken liegt, der mir das Gefühl gibt, ich mache etwas falsch? Tiefer Hass brodelt in mir. Hass auf Luan, aber in erster Linie Hass auf das Schicksal selbst.

Er beginnt jetzt ebenfalls in seiner Tasche zu kramen, wobei ich sehe, dass er einen Block hervorkramt.

Bei der Begrüßung versuche ich Luan weitestgehend auszublenden. Direkt im Anschluss lenkt Helena die Aufmerksamkeit dann auch auf mich. »Heute ist eine neue Lehrerin bei uns im Unterricht. Magst du dich einmal vorstellen?«

Ich nicke schwach. »Ich bin eure neue Deutschlehrerin Frau Nurrenberens. Ab und zu gucke ich Frau Evers beim Unterrichten zu, manchmal machen wir das zusammen und ab und zu habt ihr dann auch nur mit mir Deutsch.«

Die Schüler scheinen darüber ziemlich begeistert, obwohl sie mich nicht mal kennengelernt haben. Ohne dass ich es verhindern kann, fällt mein Blick auch zu Luan. Ich erwische mir dabei, ob er bereits durch diese Vorstellung an meiner Kompetenz als Lehrkraft zweifelt. Wenn ich es tue, er allemal.

Einer der Schüler steht auf und bewegt sich direkt auf mich zu. Ich sehe wie Helena dies registriert, sagt jedoch nichts und beginnt mit ihrem Unterricht.

»Wie heißt du mit echtem Namen?«, fragt der Junge, als er direkt vor mir steht.

Obgleich ich versuche, mich dem Hospitationsbogen zuzuwenden, bringt die Frage des Jungen kurz mein Konzept durcheinander. Eigentlich habe ich ja nichts dagegen, wenn die Schüler meinen Vornamen kennen, doch direkt in der ersten Stunde während des Unterrichts scheint mir der falsche Zeitpunkt.

Back to topWhere stories live. Discover now