Iskariot

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Vorsichtig löst er sich. Blickt mir in die Augen. "Du hast immer noch keine Ahnung, wie schön du bist, oder? Hast du deine Augen eigentlich jemals im Sonnenlicht gesehen? Entweder sind sie hellbraun oder leuchten golden." Ein wenig unsicher lächelnd sehe ich auf die Seite. "Das... wurde mir schon gesagt. Also das mit dem Gold. Aber... das ist ja nur eins." Alucard seufzt. "Deine Stupsnase mit dem geschwungenen Nasenrücken? Diese wunderbaren Lippen? Deine weiche Haut?" Ich spanne mich an, als sein Atem plötzlich über meinen Hals streicht. "Ich weiß, dass ist jetzt klischeehaft. Aber dein Hals kann sich sehen lassen, Missy." Während er sich wieder aufrichtet, schmunzelt er. "Und ich konnte einen kurzen Blick erhaschen, was sich darunter verbirgt.", meint er und zupft kurz an dem Top. "Zugegebenermaßen hätte ich gern mehr gesehen. Aber du musstest ja unbedingt darauf bestehen, dass ich damals raus gehe."

Darauf KANN ich nicht antworten! Einfach, weil mir die Worte dazu fehlen. "Aber du kannst jetzt dieses eine Lied nicht mehr hören, dass dich so glücklich gemacht hat, stimmts?" Der plötzliche Themenwechsel haut mich fast um. Und ich muss nachdenken. Doch dann schmunzle ich. "Komm in meinen Kopf." Irritiert sieht er mich an. Dennoch spüre ich einen Moment später das leichte Ziepen. Glücklich lehne ich mich nach vorn und lasse das Lied in meinem Kopf abspielen. Lege meine Arme um seinen Hals und meinen Kopf an seine Brust. Leider nicht für lange. Vorsichtig schiebt er mich von sich und hebt mein Kinn. Ich spüre, wie er im Takt auf meinem Kinn herum tippt. "Zu dir komme ich wirklich gern zurück, Florentina." Meine Augenbrauen gehen hoch. "Oho? Zu einem einfachen Menschen, Vlad?" Schnell klaut er sich einen weiteren Kuss, ehe er seine Stirn an meine legt. "Ja..."

Die Zweisamkeit genießend, bleiben wir eine ziemlich lange Zeit hier oben. Sprechen über die Dinge, die uns am Herzen liegen. Und wir setzen die Regeln. Grenzen, welche der andere nicht überschreiten darf. Während ich vor allem meine gedankliche Privatsphäre an oberster Stelle habe, steht bei ihm etwas, woran ich nicht einmal gedacht hätte. Betrug. Ich soll ihn ja nicht betrügen. Zwar sage ich ihm von vornherein, dass das bei mir völliger Schwachsinn ist, aber trotzdem akzeptiere ich den Wunsch. Seine Verlustängste sind groß. Auch, wenn man diese Anfangs nicht sieht. "Gewöhn dich besser daran, dass ich einfach auftauche.", fügt er noch hinzu und ich glaube, dass dürfte es gewesen sein. Jeder hat seine Wünsche preisgegeben und auf was es ihm ankommt. Und der Gegenüber hat es akzeptiert. "Das war ja fast, als würde man einen Vertrag schließen.", witzele ich leise und entspanne mich sofort, als er durch meine Haare fährt. "Man kann es so sehen. Ein Vertrag fürs Leben."

Habe ich etwas dagegen? Nein, nicht wirklich. "Wobei mein Leben kürzer ist, als deins." Dieses kleine, aber feine Detail bricht so ein wenig die Stimmung bei mir. Immerhin muss er zusehen, wie ich alt werde. Grau. Krank. Ich will ihn nicht allein lassen. "Mein Angebot steht immer noch. Und die Lady würde sicherlich zustimmen." Nachdenklich sehe ich in die Ferne. Ein Vampir werden. Es klingt gut. Wirklich gut, wenn ich die ganzen Nebeneffekte aufzähle und auch daran denke, dass mein Leben um einiges länger ist! Aber... irgendetwas lässt mich zögern. Und ich weiß nicht, was es genau ist. "Du musst dich nicht gleich dazu entscheiden. Lass dir Zeit. Die hast du im Gegensatz zu mir. Es ist eine große Entscheidung." Für einen Moment stupst er mit seiner Nase gegen meine. "Aber nicht zu lange. Je älter du bist, desto schwieriger wird der Wandlungsprozess. Und die Möglichkeit, dass du die Wandlung nicht überlebst, steigen."

Stumm nicke ich. Ja, so ein alter Körper hält nicht mehr so viel aus, wie es ein junger getan hat. "Aber..., wenn ich irgendwann mal sterben sollte und ich habe mich noch nicht entschieden, kannst du mich wandeln. Ansonsten hätte ich gern die Entscheidung darüber, ob und wann." Alucard gibt sich einverstanden. Langsam hebt er seinen Kopf und sieht auf die Seite. "Ich wusste nicht, dass Pip uns hier sucht.", brummt er entgeistert und ich runzle die Stirn. "Er sucht uns? Warum hast du nichts gesagt?" Die roten Augen gehen zu mir. Sagen tut er nichts, aber ich verstehe auch so, dass er einfach nur Zeit mit mir allein wollte. "Wenn wir jetzt abhauen, wird er das ganze Anwesen auf den Kopf stellen. Und das wird mich mehr nerven, als ihn jetzt zu uns zu lassen." Vorsichtig mache ich Anstalten, aufzustehen. "Und du willst jetzt wo genau hin?" Als wäre es logisch, runzle ich die Stirn. "Aufstehen, damit du dein böses Image behältst und nicht als softy abgestempelt wirst?" Doch ich werde an ihn gedrückt. Gut, dann eben nicht.

"Meine Güte! Habe ich euch endlich gefunden! Ihr glaubt nicht-" Pip verstummt, als er auf das Dach gelangt ist und uns so sieht. Ich, auf Alucards Schoss sitzend. Am Rand des Daches. Alucards Oberkörper zwischen meinen Beinen und diese an seinem Rücken verschränkt. Mein Kopf auf der Schulter liegend. "Was habe ich verpasst...?", fragt er leicht überfordert und Alucard dreht seinen Kopf. "Nichts. Also. Was ist." Leicht lehne ich mich nach hinten und ziehe eine kleine Schnute, während ich den schwarzhaarigen ein wenig vorwurfsvoll ansehe. "Geht das auch ein wenig netter?" Seine Augenbrauen gehen hoch. "Für jemanden, der stört, gibt es keine Nettigkeit." Nun ziehe ICH meine Augenbrauen hoch. Sehe ihn mit diesem Blick an, den ich nur bei meiner Mutter kenne. Den: 'Du-nimmst-das-sofort-zurück-oder-es-setzt-was'-Blick. Unbeeindruckt sieht er zurück. Ein Blickduell startet, welches er aber abbricht, in dem er die Augen verdreht. "Meine Güte...", zischt er leise und seufzt. Dreht seinen Kopf und lächelt gezwungen. "Auch wenn du gerade der größte Störpunkt in meinem Leben bist. Gibt es ein Problem, bei dem ich behilflich sein kann?"

Mit dem gleichen Lächeln sieht er zu mir. "Passt das für die kleine Prinzessin?" Und allein dafür könnte ich ihm eine klatschen. Ich hingegen lege mir nur eine Hand auf die Stirn. "Ich... Also... Die Lady hat neue Bewegungen von Iskariot entdeckt und ich soll euch holen..." Irritiert lasse ich die Hand wieder sinken und sehe zu Pip. "Mich auch?" Er nickt. Unsicher sehe ich zu Alucard. "Was soll ich bei einer Besprechung über Iskariot?" Der Urvampir weiß es aber auch nicht, hebt mich aber vorsichtig von sich runter, sodass wir beide aufstehen. "Ich hoffe für Iskariot, dass es etwas Interessantes ist. Man unterbricht nicht einfach so Zweisamkeit." Während Alucard vorn weg geht, ist Pip neben mir. Wir sind beide überrascht, dass Alucard einfach geht und nicht, wie sonst, einfach im Schatten verschwindet. Pip und ich unterhalten uns nur mit Blicken und Gesichtsmimik. Er sieht zu Alucard, dann zu mir. Zieht die Augenbrauen hoch. Grinsend beiße ich mir auf die Unterlippe und nicke. Ein weiterer fragender Blick. Stumm tippt er sich noch auf das Handgelenk, um eine Uhr anzudeuten. Mit dem Daumen deute ich hinter mich. Heute erst so wirklich. Skeptisch zieht er die Luft ein wenig lauter ein, als er es sonst tun würde und sieht auf den Rücken des Vampirs. Scheint ihn lautlos zu warnen. 

Point of no returnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt