Kapitel 19

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Joseph presste sich ein Kühlpack an sein linkes Knie. Nachdem im Kontrollraum das Bekennervideo gezeigt worden war und er sich noch am Tisch hatte festhalten können, hatte er Masson, Borowski, Zjawinski und den anderen Geheimdienstlern gesagt, dass es ihm gut gehe und er mit der Situation klarkäme. Dennoch war er dann - auf dem Weg zurück in den kleinen Besprechungsraum - zusammengesackt und auf sein Knie gestürzt. Er war nicht ohnmächtig geworden, aber seinen Körper hatte die Kraft verlassen.

Neal Masson und Jakub Zjawinski hatten Joseph wieder auf die Beine geholfen und ihn bis zum Besprechungszimmer, indem er nun endlich saß, gestützt. Derweil hatte Ewa Borowski etwas zum Kühlen geholt. Nun, da Joseph erstmal versorgt war, fühlten sich die Geheimdienstagenten wieder in der Lage, über den Fall zu sprechen.
"Nun, das ist natürlich eine unglaubliche Wendung in diesem Fall", begann Masson das Gespräch.
"In der Tat", bestätigte Jakub Zjawinski. "Aber es zeigt uns auch, dass wir richtig gelegen haben, als wir das Haus von Herrn Heimbeck observiert haben. Er hat offenbar doch etwas mit Gniew-Osiem zu tun."
"So sieht es stand jetzt aus", bestätigte Masson.
"So sah es auch damals schon aus. Mit dem Unterschied, dass mir da einfach niemand glauben wollte."
"Bitte, Zjawinski. Jetzt ist nicht der Zeitpunkt, um das bockige Kind raushängen zu lassen."
"Ich wollte es nur nochmal gesagt haben. Mein Spürsinn täuscht mich nicht."
"Ist ja gut", unterbrach Ewa Borowski ihn. "Wir haben es kapiert."
"Frau Borowski hat Recht", sprang Masson ihr zur Seite. "Wir sollten uns jetzt alle auf den Fall konzentrieren."

Masson machte eine kurze Pause und blickte zu Joseph und Albert. Vorsichtig setzte er dann zum Wort an: "Herr Heimbeck, ich weiß, dass das gerade schwer für sie ist. Aber haben Sie spontan eine Idee, was Ihren Vater bewegen könnte, sich einer solchen Organisation anzuschließen?"
"Er würde sich nie solchen Kriminellen anschließen", antwortete Joseph lauthals.
"Aber Sie haben doch selbst gesagt, dass er es war, den wir auf dem Bekennervideo sehen konnten."
"Schon, aber..."
"Man hat ihn gezwungen", fiel Albert Joseph in's Wort. "Johann Heimbeck ist von den Kerlen gezwungen worden, bei ihnen mitzumachen."
"Wie kommen Sie darauf, Herr Lischewski?", fragte Masson nach.
"Naja, das ist natürlich nur eine Vermutung. Aber ich denke mir, dass es keinen Sinn macht, diesen Zettel zu schreiben, auf dem 'Ich lebe noch' steht, wenn ich undercover mit Gaunern arbeiten will."
"Ehrlich gesagt, ist das ein berechtigter Einwand", gestand Ewa Borowski. "Wieso sollte Herr Heimbeck jemanden darauf hinweisen, dass er noch lebt? Ich meine: alle hätten ihn für tot gehalten und er hätte ein neues Leben in den Reihen von Gniew-Osiem führen können. Absolut unerkannt. Besser geht es nicht, wenn man ein kriminelles Leben starten will. Aber er schreibt bewusst einen Zettel, der ihn verrät. Das sieht zugegebenermaßen auch für mich eher so aus, als sei Herr Heimbeck gezwungen worden und würde so versuchen, von seinem Sohn oder von uns gefunden und befreit zu werden."

Alle schwiegen kurz und ließen sich Alberts und Ewa Borowskis Worte durch den Kopf gehen. Jakub Zjawinski tippte immer wieder gedankenversunken mit der Rückseite eines Kugelschreibers auf den Tisch. Das Klacken beim Ein- und Ausfahren der Mine ertönte nahezu im selben Takt wie das Ticken der Wanduhr. Erst durch Massons tiefe Stimme wurde die Stille erneut gebrochen: "Wenn wir mal davon ausgehen, dass Sie beide recht haben: Gibt es denn was, womit man Ihren Vater erpressen könnte, Herr Heimbeck? Es muss ja dann etwas geben, dass ihn dazu zwingt, nachzugeben und sich Gniew-Osiem anzuschließen."
"Ich bitte Sie!", übernahm Albert erneut das Wort, noch bevor Joseph zum Sprechen ansetzen konnte. "Da reicht doch eine Waffe. Ich muss doch keine Leichen im Keller haben um erpressbar zu sein. Wenn Sie mir eine Knarre an den Kopf halten, mache ich fast alles, was sie wollen."
Ewa Borowski warf sich ihre dunklen Haare hinter die Schultern, spitzte nachdenklich die Lippen und nickte anerkennend. Sie schien allmählich Gefallen an der pragmatischen Denkweise von Albert zu finden.
"Auch hier stimme ich Herrn Lischewski zu, Boss" sagte sie in Richtung des gebürtigen Amerikaners. "Wenn wir davon ausgehen, dass Herr Heimbeck gezwungen wurde, dann ist es egal, welches Druckmittel sie dafür genutzt haben. Darüber könnten wir ohnehin nur mutmaßen."
"Vielleicht haben Sie recht", antwortete Masson. "Aber wir haben keine anderen Ansatzpunkte."
"Meiner Meinung nach müssten wir herausfinden, ob die Vermutung, dass er gezwungen wurde, überhaupt stimmt."
"Und wie stellen wir das an?", fragte nun Jakub Zjawinski nach.
"Herr Heimbeck...", Ewa deutete auf Joseph, "...kann vielleicht herausfinden, warum Johann Heimbeck das Haus besaß. Bisher ist unser Erkenntnisstand da ja eher dünn. Aus dem Ergebnis von diesen Nachforschungen können wir dann folgern, ob Heimbeck Senior das Haus für Gniew-Osiem gekauft hat oder ob er es schon vorher besaß. Wenn er es vorher schon besessen haben sollte und eigentlich ganz andere Pläne damit hatte, dann ist es doch naheliegend, dass er gezwungen wurde, sich Gniew-Osiem anzuschließen."
"Fahren Sie fort!", ermutigte Masson seine Kollegin mit einer kreisenden Handbewegung.
"Dann wäre davon auszugehen, dass Gniew-Osiem Herrn Heimbeck ausgewählt hat. Ein älterer Mann, der hier keine Verwandten oder andere Bezugspersonen hat, und zudem ein Haus in strategisch guter Lage besitzt - das ist doch ein perfektes Ziel für eine solche Gruppe."
"Ist die Lage denn strategisch wirklich so toll?", hakte Jakub Zjawinski nach.
"Da können wir dann immer noch drüber nachdenken. Erstmal ist das ja nur ein Gedankenspiel. Es geht doch im Wesentlichen darum: Ist Johann Heimbeck, durch seine privaten Aufenthalte in Krakau, unglücklicherweise Opfer von Gniew-Osiem geworden? Oder hat er sich hier bewusst ein Haus gekauft, um Gniew-Osiem unterstützen zu können?"

"Ich verstehe", sagte Neal Masson nun. "Der Hauskauf ist der Schlüssel. Wenn wir wissen, ob Gniew-Osiem bereits beim Hauskauf die Finger mit im Spiel hatte, dann war und ist Heimbeck schon lange Teil der Organisation und hat bereits von Deutschland aus mit ihnen kooperiert. Wenn dies nicht der Fall ist, dann können wir uns überlegen, warum Gniew-Osiem Heimbeck, hier in Polen, ausgewählt hat. Dazu wäre dann das Haus noch einmal genauer zu untersuchen. Dann müsste auch geprüft werden, welche strategischen Vorteile dieser Standort bieten könnte. Aber das ist Zukunftsmusik."

Wieder wandte sich Masson Joseph und Albert zu. "Herr Heimbeck, können Sie irgendwen genauer befragen, um mehr Informationen über den Hauskauf zu bekommen?"
Joseph, der nur Bruchstücke des Gespräches mitverfolgt hatte, antwortete: "Arthur. Er ist ein guter Freund der Familie. Er hat mir auch das Testament meines Vaters verlesen. Aber er schien bei unserem Gespräch nicht viel über das Haus zu wissen. Er ist trotzdem meine einzige Idee gerade."

Masson rieb sich die flachen Hände durch sein Gesicht. Er murmelte nachdenklich in sie hinein. Dann sagte er jedoch: "Versuchen Sie es trotzdem. Das ist unsere einzige Option. Finden sie jedes Detail raus, das sie irgendwie aus ihrem Bekannten herausquetschen können."

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