Kapitel 10

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Kapitel 10

Mein Kopf dröhnte, als ich am nächsten Morgen aufstand. Es war bereits 9 Uhr. Normalerweise war ich zu dieser Uhrzeit schon drei Stunden wach, aber heute erlaubte ich es mir durchzuschlafen. Oder zumindest so lange, wie es möglich war. Ich schnappte mir mein bequemstes Kleid. Das war war schnell geschehen, ich besaß schließlich nicht viele. In kürzester Zeit hatte ich mein Korsett gebunden und das Kleid darüber gezogen. Ich musste zu Flora und anschließend zum Wochenmarkt. Hoffentlich gab es um die Uhrzeit, in der ich am Marktplatz ankommen würde noch gute Angebote. Manchmal kam es nämlich vor, dass die Verkäufer nur noch Gemüse mit Druckstellen hatten. Vom Fleisch brauchte man gar nicht erst reden. Das konnten wir uns sowieso nicht leisten.

Die frische Luft tat meinem Kopf gut. Sie wirkte wie ein heißes Schaumbad gegen meine Schmerzen. Zwar waren sie nicht verschwunden, doch ich konnte sie aushalten. Etwas anderes blieb mir nicht übrig. Das Ballkleid hatte ich sicher eingepackt und bedeckt, falls es heute regnen würde. Der Himmel war wolkenverhangen und die Luft war schwer, aber wenigstens es war nicht so kühl wie die letzten Tage. Zwar immer noch eiskalt, doch es würde nicht mehr schneien. Zumindest hoffte ich das. Ich schritt durch die Stadt und beobachtete die verschiedensten Menschen, die an mir vorbei gingen. Viele von ihnen grüßte ich freundlich. Ich blieb sogar drei Mal stehen, weil ein Bekannter ein kurzes Gespräch mit mir führen wollte. Darum kam man in dieser Stadt nicht herum. Die Meisten Menschen waren sehr nett und gesprächig. Einfache Arbeiter, wie ich, die keine Energie und Zeit für negative Dinge hatten. So war es hier. Harmonisch und friedlich.

Ich klopfte an die Haustür von Floras Familie. Ohne lange warten zu müssen, öffnete der Butler mir die Tür. Er arbeitete dort schon seit Flora und ich klein waren. Philippe war ein schlanker Mann, der immer ein Lächeln auf den Lippen trug. Jedes Mal, wenn man ihm über den Weg lief, grinste er einen derart gut gelaunt an, dass man gar nicht anders konnte als es ihm gleich zu tun.
"Guten Morgen, Adeline. Was führt dich zu uns?" Er trat zur Seite und ließ mich eintreten. Er nahm mir meine Jacke ab und legte sie sich über den angewinkelten Unterarm.
"Ich gebe Flora nur etwas zurück, dass sie mir ausgeliehen hat. Ist sie in ihrem Zimmer?" Ich sah mich im Eingangsbereich des Hauses um. Die Einrichtung hatte ich immer bewundert, selbst als mein Vater noch lebte und wir uns nicht um Nahrungsmittel Sorgen machen mussten. An den Wänden hingen in regelmäßigen Abständen Gemälde von Familienangehörigen und Landschaften, die die Familie besucht hatte. Jedes einzige von Floras Mutter gemalt. Außerdem lag zu meinen Füßen ein schöner senfgelber Teppich. Er strahlte immer noch so wie am ersten Tag. Die Putzfrau machte wirklich einen guten Job.
"Miss Flora ist oben und bearbeitet einige Dokumente für ihren Vater. Sie wird sich sicher freuen, dich zu sehen." Mit einem Lächeln verließ ich Philippe und ging die Treppen nach oben. Dort vernahm ich bereits ein Kratzen. Das konnte nur Flora sein. Ihr Lieblingsstift war schon alt und machte die grässlichsten Geräusche beim Scheiben, doch trennen wollte sie sich nicht von ihm.
"Guten Morgen. Du bist ja richtig fleißig." Ich betrat das Zimmer, aus dem das Kratzen kam und fand dort Flora. Sie saß wie eine Eins an ihrem Schreibtisch. Vor ihr stapelten sich Dokumente.
"Hallo, warum bist du denn schon so früh hier?" Sie hob ihren Kopf nicht an als sie das sagte. Weiter vergrub sie ihre Nase in das Papier.
"Es ist doch schon halb Zehn. Ich wollte das Kleid zurückbringen." Sie setzte geräuschvoll eine Unterschrift und drehte sich dann zu mir um. Ihre Augen zierten dunkle Ringe. Ein ungewöhnlicher Anblick. Sonst hatte sie doch keine Schlafprobleme.
"Danke, du kannst es da hin legen. Es ist wirklich schon so spät? Wie die Zeit verfliegt..." Sie zeigte auf einen kleinen Sessel, der in der Ecke stand. Flora zog ein Taschentuch aus der Tasche ihres Kleides und schnäuzte sich.
"Geht es dir denn schon besser?" Ich legte mein Päckchen ab und betrachtete sie weiter.
"Die Erkältung ist gar nicht so schlimm. Aber die Arbeit macht mich wahnsinnig." Sie seufzte, worauf sie sofort husten musste.
"Aber es ist doch Sonntag." fragte ich verwirrt nach. Sie hatte doch sonntags nie viel zu tun.
"Ja... Aber Leichen achten bekanntlich nicht auf den Wochentag. Genauso wenig wie ihre Mörder." Ich blickte sie wortlos an. Wollte sie mir gerade sagen, dass in unserer kleinen Stadt ein Mord passiert war. Heute morgen war doch jeder so gut gelaunt. Hatte ich mich verhört?
"In der Fliederstraße wurde ein Mann gefunden, der wie ausgeblutet war. Man geht von Mord aus." Sie legte den Kopf in den Nacken und atmete tief durch, "Das ist so viel Papierkram, du glaubst es nicht. Und sobald die Leiche untersucht wurde, fängt der Spaß erst richtig an." Mein Herz stach so sehr, dass ich mich setzen musste. Die Fliederstraße war die Stelle an der ich gestern Schritte hinter mir gehört hatte. Und dort wo Elise arbeitete! Ich griff mir an die Brust. Das konnte nicht sein!
"Wann... Wann wurde der Mann... ermordet?" Flora zuckte mit den Schultern. Ich beneidete sie, um ihre ruhige Ader. Nichts konnte sie so schnell aus der Bahn werfen. Nicht mal ein Toter.
"Der Arzt geht von zwei bis drei Uhr nachts aus. Warum fragst du? Ist alles gut?" Sie kam zu mir und legte eine Hand auf meine Schulter. Sachte strich sie darüber. Ich versuchte meine Angst zu verdrängen, doch es gelang mir nicht.
"Nichts... Alles gut. Ich bin nur... ein wenig schockiert. Das ist alles."
"Die Polizei bearbeitet den Fall bereits. Sie werden denjenigen schnell finden, da brauchst du dir keine Sorgen machen." Ich nickte hilflos. Hätte ich auch das Opfer sein können? Oder Elise, die jeden Morgen um fünf Uhr zur Bäckerei muss?

"Papa muss bald den Bürgern bescheid geben. Hoffentlich bricht keine Panik aus." Flora arbeitete weiter an den Akten, während ich auf einem Stuhl neben ihr saß. Ich wollte alles wissen! Vielleicht hatte er es nur auf diesen Mann abgesehen und war nie eine Gefahr für mich oder meine Schwester gewesen. Das hätte ich gerne gehört.
"Wie ist er denn gestorben?" fragte ich meine Freundin.
"Das ist ja das Komische. Auf den ersten Blick hatte er keine Verletzungen. Zwei kleine Wunden am Handgelenk, viel zu klein um dadurch zu sterben. Von Blut auf dem Boden oder an der Kleidung des Mannes war auch nichts zu sehen. Dabei hatte er einen großen Blutverlust. Zumindest hat mir das der Arzt erzählt. Bei der Untersuchung kommt bestimmt noch mehr raus. Und dann wird dieses Monster geschnappt!" Sie sah mich selbstbewusst an. Das war eine zweit gute Eigenschaft an Flora. Sie war sehr optimistisch.

Der süße Geschmack von BlutOpowieści tętniące życiem. Odkryj je teraz