48 - Gnade

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Julian stockte der Atem in der Kehle. Er starrte den Mann an, der mit wenigen Sätzen nicht nur die Grundlage der Religion pulverisiert hatte, deren Prinzipien bis dato Julians Leben geprägt hatten, sondern auch in Frage gestellt hatte, ob er selbst wirklich ein Mensch war. Nicht nur waren die Sterne, die von einer ganzen Stadt als Götter verehrt wurden real, sie waren grausam und nicht gütig. Und das Schlimmste war, dass ihn seine Flammen mit genau diesen Wesen verbanden. Widernatürlich, echote es in seinem Kopf. Er sah hinunter zu dem gefangenen Gott, der scheinbar schwerelos im dunklen Wasser hinter der Glasscheibe schwebte.

„Was soll das heißen?", fragte Cress, bevor er es tat.

„Das soll heißen", Achill bückte sich im halbdunkel nach seiner Lampe und nahm ein Streichholzpäckchen von Walsh entgegen, „dass er nicht menschlich ist. Nicht nur zumindest."
Er entzündete die Lampe, während er in der Hocke saß.

„Valeria, ich schwöre bei allen Göttern, dass ich dir die Nase breche, wenn ich dir jedes Wort einzeln daraus hervorziehen muss!", brüllte Cress.
Er sah zu ihr hinüber, erntete einen schnellen, verängstigten Blick. Der Tänzer war lautlos und scheinbar schwerelos wie Rauch neben seinem Geliebten aufgetaucht, als stumme Drohung. Der Valeria richtete sich wieder auf und reichte Julian die Laterne.

„Während des Krieges vermischten sich Esterel und Menschen nicht nur auf den Schlachtfeldern. Es entstanden ‚verfluchte Kinder', Mischlinge."

Ein weiteres Streichholz flammte auf, ein weiterer Kerzendocht fing Feuer. Die Flamme in Julians Lampe brannte unnatürlich still und gerade, als wäre sie genauso fokussiert wie er selbst.

„Es waren wenige. Die meisten überlebten nicht und wenn sie es taten, waren sie in der Regel unfruchtbar. Diese wenigen wurden von Menschen und Esterel gleichermaßen verfolgt und ermordet."

Die Stimme des Valeria war ungebrochen weich und warm, als würde er ein Kindermärchen erzählen und nicht die grausamen Details der jüngeren Geschichte offenbaren. Einer Geschichte, die Julian trotz seines Studiums nicht bekannt gewesen war.

„Man dachte, dass man sie alle ausgerottet hätte, als die Bunker versiegelt wurden. Doch bald schon traten Gaben zu Tage. Selbst wenn ein verfluchtes Kind seine Gabe verbergen konnte, so wurde sie doch an die nächste Generation weitergegeben. Und die danach. Mit der Zeit verwässerten die Gaben immer mehr. Verborgen und verleugnet verkümmerten sie. Nur noch Schatten blieben."

Für einen Moment senkte der Valeria den Blick, als müsse er sich sammeln. Eine ungewöhnliche Geste für ihn. Nicht oft schien den Valeria irgendetwas wirklich zu betreffen. Julians Blick wanderte zu seinen Händen, auf denen vereinzelt Funken glommen, als bräuchte es nur einen sanften Windstoß, um die Flammen wieder aus seinem Inneren hervorzulocken.

„Doch die Gabe des Kronprinzen ist nicht verkümmert", stellte Achill fest, der Julians Blick gefolgt war, „Sie ist ursprünglich. Alt. Als hätte er vor einhundert Jahren gelebt. Sie ist nicht die Gabe eines Nachfahren, sondern die eines verfluchten Kindes."

Die geradeeben entzündeten Kerzen erloschen so plötzlich, dass Cress zusammenfuhr.
Julian hob den Blick zu ihr. Und das erste Mal, seit sein Vater sie in seinen Gemächern überrascht hatte, stand Angst in den Augen der Diebin.

„Es gibt verschiedene Esterelfamilien mit verschiedenen Gaben, wie wir auf den Schlachtfeldern herausfinden durften", erklärte der Valeria weiter. Auch er hatte einen Schritt rückwärts gemacht, die erloschene Laterne noch in der Hand.
„Das Feuer ist mit die Verheerendste. Es gibt Berichte darüber, wie menschliche Soldaten lieber hoffnungslos desertierten, als klar wurde, dass ein General mit dieser Gabe gegen sie stehen würde. Die tückischen Flammen sind nicht nur die schrecklichste Waffe der Feldherren, sie krönen die Herrscher der Esterel. Es scheint schicksalhaft, dass ein menschlicher Prinz die Gabe eines Esterel Prinzen trägt."

Julian sah den Valeria nicht an. Stattdessen ruhte sein Blick auf der Diebin, die ihm erst standgehalten und dann zum ersten Mal seit er sie kannte den Blick gesenkt hatte.
Er fühlte sich, als hätte ihm jemand mit voller Wucht in den Bauch geboxt.
Cress Cye, der furchtlose Schattenvogel, die Farblose, die mitten in den blauen Bezirk marschiert war - die junge Frau, die für ihn in die Flammen gesprungen war ohne zu zögern - hatte Angst vor ihm.

Traurigkeit überschwemmte Julian. Er hätte wissen müssen, dass es so kommen würde.
Sie sah ihn nicht einmal mehr an. Plötzlich waren seine Glieder schwer wie Blei, die Naht auf seiner Brust tat weh, sein gerade eben dem Tod entkommener Körper forderte Ruhe. Doch wie sollte er Ruhe finden, nach allem, was Achill ihnen offenbart hatte? Schweren Herzens wandte er sich dem Blonden zu.

„Das heißt", setzte Julian mit belegter Stimme an, während an den Dochten der Lampen sanft und langsam neue Flammen wuchsen, „ich bin was?"

Als wäre nichts geschehen, flackerten die Flämmchen wieder an ihren angestammten Plätzen.

Selbst Gabriel Walsh musterte seine Lampe in einer Mischung aus Faszination und Furcht.

„Ein Mensch mit einer Göttergabe", flüsterte Cress neben ihm. Er biss die Zähen zusammen.

Achill Valeria wiegte den Kopf hin und her.

„Allem Anschein nach hat ein verlorenes Kind seinen Weg zu uns gefunden."

Die Flammen flackerten wieder wild, während Julian stumm und fassungslos den Kopf schüttelte. Er hatte geahnt, was Achill die ganze Zeit andeuten wollte, doch das hier war zu viel. Er konnte nicht glauben, was Achill sagte, konnte nicht fassen, dass er selbst plötzlich zu jemandem geworden war, den Cress fürchtete. Nicht zu jemandem, zu etwas.

„Er wollte niemanden verletzen."
Die Stimme der Diebin war zu einem Wispern geschrumpft. Ihre Wut verpufft. Unglauben, Unverständnis und nur allzu menschliche Angst standen ihr klar auf das Gesicht geschrieben.
Was zählte es schon, dass er das Feuer nicht absichtlich auf die Menge losgelassen hatte?
Was zählte es, dass er sich geschworen hatte, dass niemals wieder jemand durch seinen Fluch zu Schaden kam?
Die Zerstörung, die Asche, die er hinterlassen hatte, war nicht zu leugnen. Die Schreie der Menge echoten wieder in seinen Ohren, als würden ihn die Geister der Brandopfer heimsuchen.

Jetzt lag es an den beiden Unterweltlern, einen Blick zu tauschen.

„Was?", fragte Julian, völlig am Ende mit den Nerven.

Diesmal war es der Tänzer, der antwortete.

„Alle Verletzungen, die nach dem Feuer versorgt wurden, sind im panischen Gedränge der Menge entstanden. Es gab keine einzige Brandwunde."

Julian starrte den Valeria an.
Doch die Wut darüber, dass man ihm das nicht früher gesagt hatte, wurde von einem allesumfassenden Gefühl der Erleichterung fortgewaschen. Der Kronprinz wandte sich ab, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrte hinaus in die Dunkelheit der Höhle.
Er hatte sich an sein Versprechen gehalten. Ein paar Mal atmete er tief aus und ein. Tränen der Erleichterung wollten aus ihm herausbrechen, doch schon fast reflexartig schluckte er sie herunter.

Der Blick der Diebin war verwirrt, erschüttert, doch nicht mehr so verschreckt und ängstlich wie zuvor.

„Nicht ein Mensch ist in den Flammen ums Leben gekommen", ergänzte Achill, „Das ist der Grund, wieso mein Vater Euch das Leben zugestand. Ihr seid mit einer grausamen Gabe gezeichnet, Julian d'Alessandrini-Casanera, aber ihr habt Gnade gezeigt."

Smokehands (Skythief pt. 2)Tempat cerita menjadi hidup. Temukan sekarang