72 - Vergebung

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Sie stand am Fenster, die Silhouette einer Göttin vor den Lichtern der unteren Stadt. Eine Hand hatte sie an den Türrahmen gestützt, als würde die Welt erbeben und sie müsste sich irgendwo festhalten. Man konnte die feiernde Menge bis hinauf zu ihnen hören, die Lichter über die Plätze tanzen sehen. Er trat näher, ließ den Nachtwind über sein immer noch feuchtes Gesicht streichen.

Sie konnte ihn riechen. Er benutzte eine andere Seife und das Aftershave fehlte, doch er roch immer noch nach Julian. Nach knisternden Kaminfeuern, klimpernden Klaviertasten und klaren Kristallgläsern.

Sie standen eine Ewigkeit oder nur eine Sekunde dort am Fenster, beide fixiert auf den Atem des jeweils anderen, nahe und doch noch auf Abstand nach allem, was zwischen ihnen gelegen hatte. Doch sie hatten den Rand der Klippe erreicht. Und waren kurz davor, zu stürzen.

Er hob die Hand. Strich ihre Strähnen über die Schulter zurück, fasste sie langsam zusammen und legte ihren Nacken frei für den Nachtwind. Gänsehaut stand auf ihrer Haut, als sich ihre Blicke trafen.

Das Blau einer Königsdynastie und das Blau eines Geistes.

Sie schluckte, als er sie ansah. Er hatte seine Maske abgelegt, als er in dieses Zimmer gekommen war. Nichts verbarg seine Zuneigung mehr vor ihr.
Sie konnte sehen, dass seine Pupillen geweitet waren, als ob er etwas ansehen würde, das ihn in einen Rausch versetzte. Als ob sie ihn in einen Rausch versetzen würde.
Immer noch hielt er ihr Haar in der Hand, seine Finger drückten warm gegen ihren Nacken.

„Sag mir, dass ich gehen soll", flüsterte er.

Schauder tanzten über ihren Rücken.
Es war ein letzter Versuch, das Unerhörte abzuwenden. Eine letzte Möglichkeit, aus dem Zug auszusteigen, der direkt auf die Abbruchkante der Klippe zu jagte.

Begehren. Er wusste nicht, wann er das letzte Mal eine Frau so begehrt hatte, wie sie.
Immer noch hatte er sich nicht bewegt. Schwebte in der Spannung, die in der Luft knisterte, wie ein Regentropfen umzuckt von Blitzen. Jenseits dieses Zimmers war er ein Halbgott. War er ein König. Hier brauchte sie nur den Kopf zu schütteln, ein paar Worte zu sagen, und er würde sich fügen.
Er würde ihr genauso wenig weh tun, wie es sein Feuer getan hatte.

Die Zeit war stehen geblieben. Er sah nur sie. Versank in den Universen ihrer Augen. Driftete haltlos durch den Raum. Nahm gleichzeitig ihren Körper, ihre Schlüsselbeine, ihre Schultern, ihre Lippen wahr. Alles auf einmal. Wartete. Halb darauf gefasst, dass sie ihn wegstoßen würde.

„Willst du denn gehen?"

Sie musste wissen, wie sehr er ihr verfallen war. Und doch fragte sie ihn.

„Nein", atmete er. Bewunderte ihre Gänsehaut.

„Dann bleib bei mir", flüsterte sie.

Sie bat ihn zu bleiben. Ihn.

Vorsichtig beugte er sich vor, senkte den Kopf und streifte mit den Lippen ihre Halsbeuge, als würde sie sich ansonsten auflösen wie Morgennebel. Seine Arme schlangen sich um ihre Hüfte, langsam und stark. Wie ein Versprechen.
Er war so viel größer als sie. Hüllte sie ein in seine Wärme.
Sie neigte den Kopf zur Seite, atmete aus, lud ihn ein.

Er küsste sie. Begann bei der Rundung ihrer Schulter, wanderte langsam, als wäre jeder Kuss ein Kunstwerk, weiter nach oben. Die weiche Haut an ihrem Hals schmeckte besser als Zucker.

Ihre Lippen hatten sich von selbst geöffnet. Ihr Atem war schwerer geworden.
Als er den Ansatz ihres Kiefers küsste, war sie Wachs in seinen Armen.
Zum ersten Mal seit Jahren wollte sie die Augen schließen. Tat es. Wandte den Kopf.

Warmer Atem auf erwartungsvollen Lippen. Dann verlor sie die Sprache. Verlor sämtliche Erinnerungen.

Er liebte es, sie zu küssen. Er hätte es gerne für den Rest seines Lebens getan.

Seine Hände um ihre Hüften, an ihren Seiten, auf ihrem Rücken und an ihrem Hals.

Sie seufzte an seine Lippen, als er ihre Brust streichelte.
Ihr linker Träger rutschte den Arm hinunter. Clevere Finger hielten ihn zurück. Schoben ihn wieder hinauf. Strichen auf dem Rückweg über diese schönen Schlüsselbeine.

Sie trennten sich nur, um Luft zu holen. So nahe, so so nahe beieinander und doch noch nicht nahe genug.

Er wollte sie. Sie konnte es spüren und doch hatte er diese unglaubliche, laszive Selbstbeherrschung. Ungebrochen.

Sie strich mit zwei Fingern über seine Wangen, bis zu seinen Lippen. Er küsste ihre Fingerspitzen.

Sie nahm seinen Kopf in die Hände, drückte ihn sanft zurück und legte seine Kehle bloß. Julian erschauderte bis tief in seine Seele, als sie ihre Zähne und Lippen über seinen Adamsapfel wandern ließ. Letztendlich wieder seinen Mund fand.

Seufzen in der Dunkelheit. Erster Schweiß.

Er hatte sie halb durch das Zimmer getragen, stellte sie wieder auf ihre eigenen Füße.

„Leg' dich hin", hauchte er.

„Leg' du mich hin", forderte sie.

Weiche Decken in ihrem Rücken, ein warmer, fester Körper über ihr. Julian hatte die Finger in ihrem Haar vergraben, kniete links und rechts von ihren Beinen.

Ihre Brüste drückten durch den Stoff ihres Kleides und seines Hemds gegen seine Brust. Zu viel Stoff. Viel zu viel Stoff.

Cress riss sein Hemd förmlich auf. Ein Knopf sprang auf den Boden und kullerte in die Dunkelheit davon.

„Warte", er hielt ihr Handgelenk fest, Zentimeter entfernt von seiner nackten Brust. Als sie aufsah, lag Unsicherheit in seinen Augen. Einen Moment lang war sie verwirrt. Er war schon mit so vielen Frauen zusammen gewesen – wieso zögerte er? Doch sie waren so viel komplizierter, als all die anderen.

Julian war nicht mehr der, den sie damals in der Suite kennengelernt hatte. Er war nicht mehr makellos, nicht mehr perfekt.
Vorsichtig knöpfte sie sein Hemd auf, spürte seinen Blick auf ihrem Gesicht, als sie die Narben sah. Als sie die andere Hand nach ihm ausstreckte, ließ er es zu. Trotz allem, das er erlebt hatte, empfand Julian etwas wie Furcht.

Die Diebin strich mit den Fingerspitzen über seine Haut, parallel zu der hässlichen Narbe, die sich über seinen Oberkörper zog, und er hielt die Luft an. Er wusste, wie abstoßend die Narbe aussah, deswegen hatte er sie auch um jeden Preis vor ihr verborgen. Sein ganzes Leben war alles an ihm geradegerückt und korrigiert worden. Mehr als alles andere war sein perfekter Körper seine Rüstung gewesen. Julian hatte seinen Schutz verloren, war verwundbar geworden, hatte sich selbst dazu gemacht. Doch wenn er sich irgendjemandem so zeigen wollte, dann ihr.

Cress legte ihre Hand auf seine Brust, sah zu ihm auf und lächelte. Sie lächelte.

Seine Augen huschten in einer Mischung aus Zärtlichkeit, Erleichterung und Schmerz über ihr Gesicht. Sie machte ihn so glücklich, dass es beinahe weh tat.

Vorsichtig streifte Cress das Hemd von seinen Schultern. Sie waren noch nicht einmal annähernd nackt und doch hatte er sich noch nie jemandem so nahe gefühlt.

Goldene Engel sahen missbilligend zu, wie das skandalöseste Paar beider Städte sich weit weg von all den anderen liebte. Nichts hätte Cress und Julian weniger interessieren können. Irgendwann lag sie in seinen Armen und ließ die Finger durch die kleinen lautlosen Flämmchen wandern, die er für sie auf seinen Armen flackern ließ. Die Narben waren für den Augenblick vergessen, die Schmerzen ein fernes Echo.  Auch wenn der weite Himmel so weit weg war - in diesem Moment, empfanden sie nichts als Freiheit.

Smokehands (Skythief pt. 2)Where stories live. Discover now