19 - Todesstoß

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„Nein! Nein!"
Cress weinte nicht, aber sie schrie. Man ließ sie schreien, da sie sich selbst kaum hören konnte über den Lärm der Menge. Sie hatte versucht, über die Brüstung zu hechten, um über die terassenartig abfallenden Ränge in die Arena zu kommen, aber Walsh hielt sie fest. Er roch nach Lavendel und Leder.
Wenn er mit ihr redete, hörte sie ihn nicht. Wenn er sie anschrie, ertrank seine Stimme in ihrer eigenen.

„Nicht! Bitte!"
Sie wand sich, kämpfte gegen den Tänzer, den Spion an, war aber zu paralysiert, um sich ihm mit aller Kraft zu stellen. Am liebsten wäre sie einfach zusammengebrochen.
Er entschuldigte sich dafür, dass er sie festhielt, aber sie hörte ihn gar nicht. Julian kauerte vor dem Cyborg, der aussah wie Mattia, das Gesicht abgewandt.
So viel Blut. Noch nie hatte sie einen Adeligen so bluten gesehen. Noch nie hatte sie gesehen, dass jemand mit solch eiserner Präzision und Manipulation gebrochen wurde. Dieser Kampf war entschieden gewesen, noch bevor er begonnen hatte. Und doch hatte er so lange gedauert. Und doch hatten sie ihn aufgeschnitten und auseinandergerissen wie ein Tier.
Sie sah es auf den Screens.
Jeden Schnitt.

Hyppolita wandte sich der Menge zu, ausgebreitete Flügel und Arme. Für einen Moment dachte Cress, sie würde sich verneigen. Doch dann sah sie, was die Menge tat. Erhobene Hände, die sich zu Fäusten ballten. Daumen, die nach unten zeigten.
Hades erhob sich, schritt an die Kante, während zwei weitere Wachen zwischen ihn und Cress traten.
Der Herr der Unterwelt stand an der Kante des Abgrunds, Herr der Chaos, Kaiser des Volkes.
Ein Gott unter den Menschen. Langsam, bedächtig, streckte er den Arm aus. Die Welt schien den Atem anzuhalten in den Momenten bevor er mit dem Daumen nach unten zeigte.
Eine Bestätigung. Eine letzte Nachfrage. Eine letzte Gewissheit.
Das war es. Das hier war das Ende.
Der Todesstoß war nur Momente entfernt.

„Julian!", schrie sie, immer wieder, „Julian!"
Er sah zu ihr hinauf, obwohl er sie nicht hörte. Wie ein verlorener Seefahrer, der in einem Sturm auf einen Leuchtturm hoffte. Als er sie fand, ging etwas durch seinen Gesichtsausdruck, dass sie nicht verstand. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, während der Engel die Klinge zum Todesstoß erhob.

Cress hörte ihn nicht, konnte das „Es tut mir leid" nur von seinen Lippen ablesen.

Alle Männer, die dich lieben, scheinen zu sterben.

Dann sauste die Klinge der Gladiatorin nieder, Cress Schrei ging im Gebrüll der Menge unter und das Blut des Kronprinzen tropfte auf den Boden der Arena.
Sie erschlaffte in Walshs Armen, ungläubig, plötzlich ganz still im Malstrom aus Lärm. Sie spürte den Körper des Tänzers, roch Stein, Blut, Menschen und Parfum, schmeckte die staubige Luft, hörte das Toben der Horden, fühlte die trunkene Euphorie des Sieges in ihnen allen.
Und doch fühlte sie nichts mehr.

Julian sank zu Boden, sein Kopf knallte auf Fels. Cress sah auf einem Bildschirm zu, wie das Licht in seinen Augen verblasste.
Bis sie ihm die Gnade erwiesen, ihn sterben zu lassen.
Cress starrte paralysiert hinunter auf den Kampfplatz, auf dem gerade innerhalb von ein paar Momenten der einzige Mensch gestorben war, bei dem sie sich ganz gefühlt hatte. Erst jetzt, wo es kein Zurück mehr gab, erst jetzt, wo sie ihre Chance verspielt hatte, wurde ihr bewusst, dass sie ihn brauchte.
Dass sie ihn brauchen wollte.
Und auch, dass sie alle büßen lassen würde, die ihm das angetan hatten. Die ihr diese Chance gestohlen hatten, glücklich zu sein.

Die Gladiatorin hob den Kopf, breitete die Flügel aus und ließ sich von der Menge feiern. Aber nur für zwei Sekunden, bevor sie sich noch einmal prüfend ihrem Opfer zuwandte, als hätte er etwas gesagt.
Hatte er das? Lebte er noch?
Würde sie ihn köpfen?
Ihr eigener Kopf war so höllisch leicht.

Cress wollte wegsehen und konnte es nicht. Tränen stiegen ihr in die wütenden Augen.
Begleitet von Verwunderung, als ihr Blick zu den Leinwänden schweifte. Sie wusste nicht, wieso sie es kommen fühlte. Es war wie in dem Moment, als Mattia durch die Glaskuppel des RedLipRouletts geborsten war. Dasselbe, schreckliche Gefühl schwappte über sie hinweg.
Wie eine Welle rollte es auf sie alle zu, noch bevor man es sehen konnte.

Was dann folgte, war absolut unmöglich.
Aus dem Nichts kam es, wie ein rot goldener Sturm.
Brausend, brennend, brodelnd, todbringend und so plötzlich, dass sie zuerst nicht begriff, was es war.
Wie die Macht eines Gottes, eines Titans oder Sterns explodierte es hell wie die Sonne aus dem Körper des sterbenden Kronprinzen.
Feuer.

Smokehands (Skythief pt. 2)Where stories live. Discover now