Kapitel 7: Die Stadt des weißen Zauberers

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„Gandalf." Sie nickte ihm zu.

„Ivriniel."

Nachdem der Zauberer seine Gefährten begrüßt hatte, war nun sie an der Reihe.

„Es freut mich, dich wiederzusehen. Wenngleich ich etwas überrascht bin", gab er zu.

„Die Freude ist ganz meinerseits." Ein leichtes, aber durchaus ernst gemeintes Lächeln gelangte auf ihre Lippen.

„Man mag es kaum für möglich halten, aber auch Elben werden älter", scherzte der Zauberer.

„Als ich dich das letzte Mal sah, warst du ein kleiner Elbling. Wie lange ist das her?"

„Vierundvierzig Jahre." Sie konnte sich noch genau daran erinnern, wie traurig sie gewesen war, als der Zauberer sich verabschiedet hatte.

Gandalf nickte.

„Damals war Mittelerde anders als heute. Weniger Böses durchstreifte die Lande. Und dennoch schlief es auch in jenen Tagen nicht." Er machte eine Pause, ehe er erneut zusprechen anhob.

„Wir sollten aufbrechen, damit wir es bekämpfen können."

Sie liefen auf dem selben Weg zurück, den sie gekommen waren. Gandalfs Anwesenheit schien den Zorn der Bäume zu mildern. Der Fangorn zeigte sich nun nicht länger bedrohlich und jegliche Furcht war von ihr gewichen. Beinahe normal erschien ihr der Wald, während sie sich ihren Weg durch das Unterholz bahnten.

„Eine Etappe ist vorüber, nun folgt die nächste. Krieg ist über Rohan gekommen. Wir müssen nach Edoras reiten. So geschwind wir können", informierte Gandalf die kleine Truppe, als die Bäume langsam begannen, der weiten Ebene zu weichen.

Als sie den Waldrand erreicht hatten, spitzte der Zauberer die Lippen. Ein Pfiff erklang. Es war ein langanhaltender Ton, dessen Höhe variierte. Er klang wunderschön in ihren Ohren.

Von einem Hügel zu ihrer Linken aus nahm sie eine Bewegung wahr. Etwas Weißes bewegte sich in hohem Tempo auf sie zu. Es näherte sich und Ivriniel konnte erkennen, was es war: ein Schimmel, ein stolzes Tier von unbeschreiblicher Schönheit.

„Das ist eines der Mearas, sofern meine Augen nicht durch einen Zauber getäuscht werden", hörte sie Legolas hinter sich sagen.

Sie konnte ihre Augen kaum von dem Tier abwenden. Eine unbändige Kraft und Eleganz lag in seinen Bewegungen. Wahrlich: Dies war kein gewöhnliches Pferd.

„Schattenfell", begrüßte Gandalf sein Reittier und tätschelte ihm den Hals.

„Er ist der Fürst aller Rösser. Und mir durch viele Gefahren ein treuer Freund."

Eilig gingen sie zu ihren eigenen Pferden hinüber, die sie an einen Baum gebunden hatten, stiegen auf und jagten schon kurze Zeit später über die weite Graslandschaft hinweg mit Ziel auf die Menschenstadt.

Gelegentlich kamen sie an einigen Gehöften vorbei. Viele davon waren vollständig ausgebrannt. Nur die verkohlten Balken ragten noch in die Höhe. Die Schergen Sarumans hatten ganze Arbeit geleistet. Kein Pferd, kein Schaf, keine Ziege graste auf der Ebene. Nicht einmal eine Katze oder ein streunender Hund ließ sich blicken.

In der Ferne ragte ein Berg auf. Häuser schmiegten sich daran. Vor ihr zügelte Gandalf sein Pferd und auch die Tiere der anderen, sowie ihr eigenes wurden langsamer.

„Edoras und die goldene Halle Meduseld. Dort lebt Théoden, König von Rohan, dessen Geist zerrüttet ist. Sarumans Einfluss auf Théoden ist nun sehr stark", ließ der Zauberer verlauten.

„Seid vorsichtig, was ihr sagt. Erwartet nicht, dass ihr hier willkommen seid."

Nein, das erwartete sie gewiss nicht. Wenn ihr Feind tatsächlich den Menschenkönig beeinflusste, dann waren sie in der Stadt nicht sicher. Ein ungutes Gefühl machte sich in ihr breit.

Sie ritten weiter. Je stärker die Steigung wurde, desto langsamer ging es voran. Schließlich türmten sich vor ihnen die hölzernen Barrikaden auf, die die Stadt nach außen hin schützen sollten. Ivriniel betrachtete sie skeptisch. Einige Angreifer konnte man damit gewiss abhalten, doch was war, wenn ein Krieg losbrach? Gandalf hatte davon gesprochen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass diese paar Baumstämme eine Armee würden aufhalten können. Nicht einmal das Tor war geschlossen. Sie konnten einfach hindurch reiten.

Im Gras neben dem Pfad entdeckte sie etwas. Eine Fahne. Ein weißes Pferd auf grünem Grund, darüber eine goldene Sonne. Es war schon ein ungewöhnliches Bild. Zu jeder anderen Zeit wäre wohl jemand herbeigestürmt und hätte den Stoff vom Boden aufgehoben. Doch es kam niemand. Das stolze Rohan blieb im Dreck liegen.

Sie ritten einen schmalen Pfad entlang, der links und rechts von Häusern gesäumt war. Vor vielen der Holzbauten standen Menschen – Männer, Frauen und Kinder. Sie alle sahen ärmlich aus, etwas abgemagert. Kein Lachen war zu hören, keine aufgeregten Gespräche. Die Menschen standen nur da und sahen sie an. Kleine Jungen und Mädchen versteckten sich hinter den Röcken ihrer Mütter.

„Auf jedem Friedhof ist die  Stimmung fröhlicher", kommentierte Gimli das Bild, das sich ihnen bot.

Ivriniel konnte nicht anders, als ihm zustimmen. Sie hatte zwar noch keine Menschenstadt besucht, aber  sie war sich sicher, dass sie eigentlich anders aussehen sollte. Wenn sie Menschen bisher begegnet war – sei es auf Reisen zu ihrer Schwester nach Bruchtal oder zur Herrin Galadriel nach Lothlórien, deren Gesellschaft und Rat ihre Mutter sehr schätzte oder einfach nur, wenn sie sie bei ihren Spaziergängen oder ihrem Wachdienst die Menschen von der Ferne aus beobachtet hatte – so waren sie doch immer wortreich gewesen, teilweise sogar etwas ruppig und unüberlegt in dem, was sie sagten. Dass sie nun verstummt waren, war kein gutes Zeichen. Es verstärkte das Unbehagen, das Ivriniel erfasst hatte. Sie konnte das Böse beinahe fühlen. Es lag in der Luft und drückte schwer auf die Schultern und die Gemüter der Menschen. Je näher sie dem Gebäude auf der Spitze des Berges kamen, in dem der König regierte, desto stärker spürte sie die Ablehnung, die davon auszugehen schien.

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