Kapitel 29: Dem Ende entgegen

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Die Toten waren fort. Trotzdem sie ihnen in der Schlacht entscheidend geholfen hatten, spürte Ivriniel, wie sie sich leicht entspannte. Die grünlichen Gestalten hatten ihr die ganze Zeit über ein ungutes Gefühl verschafft. Die Toten gehörten eben nicht in die Welt der Lebenden.

Sie sah zu Legolas auf und erwiderte sein Lächeln. Sie hatten es geschafft. Der Feind war nicht nur besiegt, sondern auch vernichtet. Kaum eine Kreatur war ihnen entwischt.

"Wir sollten hinein gehen und besprechen, was nun weiter zu tun ist", sagte Gandalf und ging voran.

Sie liefen vorbei an den leblosen Körpern der Orks und Olifanten, aber auch Menschen und Pferde hatten ihr Leben auf dem Schlachtfeld gelassen. Noch war niemand aus der Stadt hinausgekommen, um die Toten zu bergen.

Das große Eingangstor der Stadt hing schief und verbogen in seinen Angeln. Nur am Rand war noch die Schönheit einiger der Statuen zu erkennen, die das Tor bedeckt hatten. Ihre zertrümmerten Gefährten straften die verbliebenen Figuren mit ihren schönen, stolzen Gesichtern Lügen. Eine weibliche Gestalt war geradezu in der Mitte gespalten worden, von der Statue darüber war nur noch ein Arm zu erkennen, der einen aufgerichteten Speer hielt.

Durch die Stadt hinauf zum Thronsaal zu gelangen, erwies sich als äußerst schwierig. Immer wieder versperrten Trümmer ihnen den Weg, darunter waren nicht selten die Gliedmaßen von Menschen zu erkennen, die dem tödlichen Aufprall nicht entkommen waren. Doch auch wenn Ivriniel an jeder dieser Stellen stehen blieb und horchte, konnte sie kein Anzeichen von Leben mehr wahrnehmen. Keiner, dieser unglücklichen Menschen hatte es geschafft, sein Grab zu verlassen. Hatte vielleicht zunächst noch der eine oder andere unter Schmerzen um Hilfe gerufen, war ihm nun ein für alle mal die Luft zum Atmen und Schreien genommen.

Viele der Türen der Häuser, an denen sie vorbeikamen, waren mit Gewalt aufgebrochen worden - ob vom Feind oder Kriegern Gondors, die gehofft hatten, dort drinnen ein Versteck vor dem Grauen auf den Straßen finden zu können, war unklar. Die Bewohner schienen ihre Türen bisweilen verteidigt zu haben, wie die leblosen Körper, gehüllt in feine Gewänder, in einigen Hauseingängen verrieten.

Auf den Straßen rührte sich kaum etwas. Gelegentlich kamen sie an Verwundeten vorbei, die sich stöhnend die Hand auf die am stärksten blutende Wunde drückten. Soldaten gingen lautlos umher, trugen die Verletzten zu Plätzen, an denen sie versorgt werden würden. Wenn sie an dem weißen Zauberer und denen, die ihm folgten, vorbeikamen, nickten sie ehrfurchtsvoll und setzten ihre Arbeit fort, ohne ein Wort zu verlieren.

Besonders eindrucksvoll erschienen Ivriniel die leblosen Körper der gewaltigen Trolle, die sie in unregelmäßigen Abständen zusammengebrochen auf dem Pflaster liegen sahen. Um eine dieser Gestalten herum lagen, wie Ivriniel zu ihrer Verwunderung feststellte, diverse Haushaltsgegenstände. Sie mussten zur letzten Verteidigung aus einem der Fenster im ersten oder zweiten Stockwerk eines der umliegenden Häuser geworfen worden sein, in der Hoffnung, das Ungetüm aufhalten zu können. Getötet hatte es jedoch wahrscheinlich die Lanze, die mitten in seiner Brust steckte. Die verheerenden Verluste, die es der Armee Gondors zugefügt hatte, wurde von dem Dutzend Männer widergespiegelt, die um das Monster herumlagen, Gliedmaßen in unnatürlichen Winkeln von sich streckend oder deren Kopf in einem zerquetschtem Helm steckte. Ivriniel wandte ob dieser Grausamkeit die Augen ab. Ekel machte sich in ihr breit, als sie den aufgeschlitzten Oberkörper eines Mannes eines Mannes in dunklen Gewändern auf der Straße erblickte. Ekel und Wut.

Dennoch: Sie hatten all diese Toten gerächt, auch wenn sie selbst den Sieg nicht erlebt hatten.

"Es wird leichter werden", flüsterte Legolas, der ihren Blick bemerkt hatte, ihr zu.

Ivriniel nickte, doch war sie sich nicht sicher, ob es das besser machte. War es gut, wenn sie der Anblick der Toten nicht mehr so sehr berührte?

Der Sitz des Königs von Gondor und der des Truchsesses in Ermangelung eines Königs in den letzten Jahren, befand sich weit über der Stadt gelegen. Von hier oben war das gesamte Ausmaß der Zerstörung zu sehen und doch schien es ihr hier weniger schlimm zu sein als auf den Straßen. Die eindringenden Feinde waren nicht bis hier hinauf gelangt und so schien all das Leid in der Stadt in die Ferne gerückt zu sein.

Als sie das Gebäude betrat, erkannte sie zu ihrer Verwunderung einen noch schwelenden Scheiterhaufen im Eingangsbereich. Jemand hatte begonnen, die Flammen mit Erde abzudecken und das Feuer damit zu löschen. Fragend blickte sie zu Gandalf hinüber, doch der sah nur stur geradeaus. Viel interessanter dagegen fand Ivriniel die Reaktion Pippins, des Hobbits, der mit dem Zauberer vor ihnen nach Gondor gereist war. Sein Blick huschte immer wieder über das dunkle, teilweise verkohlte Holz, ehe er rasch die Augen wieder abwandte und dann doch wieder hinüber sah. Was war hier geschehen?

Sie erfuhr es, während sie im Thronsaal auf Eomer warteten. Der junge Mann war außer sich gewesen, als man seine Schwester bewusstlos neben dem leblosen Körper des Königs, der halb zerquetscht war von dem Gewicht seines toten Schlachtrosses, auf dem Schlachtfeld liegen sah. Er schien nicht gewusst zu haben, dass die junge Frau sich den Kriegern angeschlossen hatte und war nun zutiefst besorgt über ihren Gesundheitszustand. Bevor er an der Besprechung teilnahm, hatte er es sich nicht nehmen lassen, zu überprüfen, dass sich seine Schwester in den besten Händen befand.

"Ich vermag Frodo in der Ferne nicht mehr zu erblicken", eröffnete Gandalf ihnen, als sie vollzählig waren. "Die Dunkelheit nimmt immer mehr zu."

"Wenn Sauron den Ring hätte, dann wüssten wir es", sagte Aragorn. Sein Blick ruhte, ihnen abgewandt, auf einer der vielen weißen Statuen, die an den Seiten des Saales aufgestellt worden waren.

Der Zauberer ging weiter auf und ab.

"Das ist nur eine Frage der Zeit", sagte er. "Er hat eine Niederlage erlitten, ja. Aber hinter den Mauern Mordors erstarkt unser Feind von neuem."

"Dann soll er da bleiben, soll er verfaulen! Warum sollte uns das kümmern? ", brummelte Gimli, der es sich auf dem Thron des Truchsesses bequem gemacht hatte und Pfeife rauchte.

Gandalf schüttelte energisch den Kopf.

"Weil zehntausend Orks jetzt zwischen Frodo und dem Schicksalsberg stehen."

Gimli blies mit lautem Geräusch eine Rauchwolke in die Luft, während ihm klar wurde, was das bedeutete.

"Ich habe ihn in den Tod geschickt." Der Zauberer klang verzweifelt, etwas, das Ivriniel Angst machte. Gandalf wusste immer weiter. Wenn er nun keine Hoffnung mehr sah, wer sollte es dann tun?

Aragorn.

Er drehte sich zu ihnen um.

"Nein. Es gibt noch Hoffnung für Frodo. Er braucht Zeit und einen sicheren Weg über die Ebene von Gorgoroth", sagte er. "Dazu können wir ihm verhelfen."

"Wie?", wollte Gimli wissen.

Aragorn sah ihn an.

"Wir müssen Saurons Streitmacht herauslocken, damit er sein Land entblößt. Wir bringen unsere ganze Kraft auf und marschieren zum schwarzen Tor."

Gimli ließ ein Husten vernehmen. Wahrscheinlich hatte er sich verschluckt, als er diese wahnwitzige Idee vernahm. Ivriniel war sich auch nicht sicher, ob sie tollkühn oder einfach nur toll (hier als Synonym für verrückt gebraucht) war.

"Wir können keinen Sieg erringen durch Waffenstärke", gab Eomer zu bedenken.

"Nicht für uns", stimmte Aragorn ihm zu. "Aber so lenken wir die Aufmerksamkeit von Frodo ab, wenn sich Saurons tödlicher Blick nur auf uns richtet, wenn er blind bleibt für alles, was sich sonst bewegt."

"Eine Ablenkung." Legolas schien dem Plan zuzustimmen.

"Sauron wird eine Falle wittern. Er wird sich nicht ködern lassen", sagte Gandalf und schüttelte den Kopf.

"Den Tod als Gewissheit, geringe Aussicht auf Erfolg? Worauf warten wir noch?", tönte es vom Thron des Truchsesses und so war es beschlossen: Sie würden erneut in die Schlacht ziehen.

Sternenlicht - Legolas FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt