Kapitel 5: Die Reise beginnt

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Mit den ersten Sonnenstrahlen war sie wach. Sorgsam flocht sie auf jeder Seite ihres Kopfes zwei der langen, lockigen Strähnen nach hinten und ließ sie sich in einem einzigen Zopf vereinen. An diesem Morgen tat sie alles selbst, was ihre Dienerinnen sonst übernahmen. Sie hatte die Frauen fortgeschickt um allein zu sein und ihre Gedanken ordnen zu können. Beinahe hätte sie laut aufgelacht. Um ihre Gedanken zu ordnen – als hätte sie nicht die gesamte Nacht über nichts anderes getan! Nein, wahrscheinlich war es eine Mischung aus Trotz und Stolz, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, wenn man sie schon nicht länger bei Hofe haben wollte. Auch wenn sie nicht länger wütend auf ihre Mutter war, dass sie sie fortschickte, so war sie noch lange nicht froh darüber.

Ein letztes Mal betrachtete sie sich prüfend im Spiegel. So, wie sie heute den Palast verlassen würde, würden viele der hier lebenden Elben sie für lange Zeit das letzte Mal zu Gesicht bekommen. Sie begegnete dem stechenden Blick ihrer eigenen, braunen Augen und stellte mit Genugtuung fest, dass kein Fünkchen der Trauer darin zu sehen war, die sie noch am vorangegangenen Tag so eisern im Griff gehabt hatte.

Auf ihrem Weg hinab in den Palasthof kreuzten immer wieder Freunde und Bekannte, sowie Bedienstete ihren Weg. Sie alle wünschten ihr Glück für ihre Reise. Mit einem Lächeln und einem Nicken bedankte sie sich. Bei engeren Freunden blieb sie kurz stehen und ließ auch das eine oder andere Wort fallen. Wenn sie wieder weiterging, hatte sie die Schultern gestrafft und den Kopf hoch erhoben. Jeder sollte sehen, dass sie stark war. Sie sollten denken, dass es ihr nichts ausmachte, ihre Heimat zu verlassen. Keiner sollte das kleine Mädchen Ivriniel sehen, das sich in ihrem Inneren versteckt hielt, das weinte und Angst hatte und das die Elbenprinzessin Ivriniel in die hinterste Ecke zurückgedrängt hatte. Die Nacht hatte dem Mädchen gehört, doch der Tag war der Prinzessin bestimmt. So würde sie es halten. Sie war nicht schwach. Sie war stark. Und jeder sollte das sehen.

Als sie den Hof erreichte, waren ihre neuen Reisegefährten bereits anwesend. Rasch überflog sie die Informationen, die sie zu ihnen hatte.

Da war Legolas Grünblatt, der Prinz des Düsterwaldes, Sohn von Thranduil. Aus den Erzählungen der Elben, die gemeinsam mit ihrem Bruder und ihrem Vater an der Schlacht um den Erebor teilgenommen und im Gegensatz zu ihnen überlebt hatten, wusste sie, dass Legolas einer der größten Krieger Mittelerdes war. Im Alleingang sollte er tausende von Orks, sowie Trolle und andere Kreaturen der Dunkelheit zur Strecke gebracht haben. Unter einigen der Veteranen hieß es, keine Waffe könnte ihn je zu Fall bringen. Ivriniel kannte diese Geschichten schon lange. Sie war mehr oder weniger mit ihnen aufgewachsen, hatte sie doch als Kind gierig alle Informationen aufgesogen, die ihr Anhaltspunkte dazu geben konnten, wie ihr Bruder und ihr Vater gelebt hatten und wie sie gestorben waren. Die wenigen Erinnerungen, die sie in sich trug, waren verschwommen. Kleine Momente. Ein Lächeln hier, ein Rügen dort, eine feste Umarmung am Abend.

Dann gab es Aragorn, Arathorns Sohn – aufgewachsen in Bruchtal unter den wachsamen Augen Elronds. Sein Vater war ein großer Mann gewesen, sowie dessen Vater und die, die vor ihm waren. Aragorn war der Erbe Elendils, der wahre König von Gondor und er liebte Arwen, die Tochter Elronds. Das hatte Lindis ihr erzählt.

Schließlich war da noch Gimli, Glóins Sohn, ein Zwerg des Erebors. Über ihn wusste sie nur das, was ihre Mutter ihr am vergangenen Abend gesagt hatte: dass Elrond ihn für fähig hielt.

Die drei standen, umringt von einigen Schaulustigen bei ihren beiden Pferden. Von einer Dienerin wusste sie, dass man auch dem Zwerg ein eigenes Pferd angeboten, dieser aber dankend darauf verzichtet hatte.

Als die umstehenden Elben sie bemerkten, machten sie ihr Platz und nickten ihr höflich zu. Aus einem Verschlag holte man ihr bereits gesatteltes und gezäumtes Pferd. Langsam und bedacht trat sie auf das Tier zu und streichelte über das weiche Fell, ehe sie in den Sattel stieg. Sie spürte die Blicke der Umstehenden auf sich ruhen und reckte das Kinn.

„Können wir los?", fragte Aragorn.

Sie nickte zur Antwort. Interessiert beobachtete sie, wie Legolas Gimli hinter sich auf das Pferd setzte. Es war schon ungewöhnlich: ein Zwerg, der sich von einem Elb helfen ließ.

Als sie durch das Tor ritten, sah sie ein letztes Mal zurück. Auf den Stufen vor der großen Pforte stand ihre Mutter. Fest erwiderte Ivriniel ihren Blick, ehe sie sich abwandte und ihr Augenmerk wieder auf den Weg vor sich richtete. Ihre Reise hatte also begonnen.

Sternenlicht - Legolas FFWhere stories live. Discover now