Kapitel 2: Böses Erwachen

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Sie hörte männliche Stimmen – eine davon ganz nah.

„Lebt sie noch?", schnaufte der Besitzer der Stimme völlig außer Atem.

„Ja, sie atmet noch", kam die Antwort von einem Mann, der ihr noch näher sein musste.

„Das Blut scheint größtenteils von den Uruk-hai zu stammen", meldete sich der erste wieder zu Wort.

Blut? Von welchem Blut sprachen die beiden? Sie konnte sich nicht daran erinnern, damit in Berührung gekommen zu sein...

Ein heißer Schmerz durchzuckte ihr Bein und bahnte sich seinen Weg durch ihren gesamten Körper.

Doch, sie konnte sich erinnern. Sie sah vor sich die Uruk-hai, die Waffen, hörte den Lärm. Vor ihrem inneren Auge sah sie die toten Elben.

Wieder spürte sie den Schmerz. Ein Geräusch entwich ihr mit dem Ausatmen.

„Sie ist bei Bewusstsein", hörte sie die hektische Stimme des zweiten Mannes.

Sie spürte, wie ihr Kopf etwas angehoben und ihr ein Gefäß an den Mund gesetzt wurde. Eine Flüssigkeit benetzte ihre Lippen und lief an ihrem Kinn hinab.

„Ihr müsst trinken", verlangte der Mann.

Mühsam öffnete sie die Lippen und ließ das Wasser in ihren Mund rinnen. Ihr Körper allerdings wollte die Flüssigkeit zunächst nicht aufnehmen. Das Schlucken kostete sie einiges an Kraft, allerdings war es nicht damit zu vergleichen, wie viel Anstrengung sie benötigte, um die Augen zu öffnen.

Sie blinzelte in den hellen Himmel. Normalerweise hätte sie ihn als dunkel wahrgenommen, da schwere Regenwolken direkt über den Baumwipfeln hingen, aber in diesem Moment blendete ihre Umgebung sie. Sie brauchte einige Momente um ihre Sinne wieder in einen gewohnten Zustand zurückzuversetzen.

„Wie fühlt ihr euch?", fragte der Mann, dessen Stimme sie zuerst vernommen hatte.

Suchend blickte sie sich nach ihm um. Was sie sah, war ein bärtiger Mann mit wirrem Haar. Er war von kleiner Statur und trug eine Axt an seiner Seite. Kurzum: Vor ihr stand ein Zwerg. Ein Zwerg! Sie hätte innerlich aufschreien können. Warum musste ausgerechnet ein Zwerg sie retten? Viel tiefer konnte eine Elbin in ihrer Würde kaum sinken.

„Ich...", begann sie, doch brach schnell wieder ab. Ihre Stimme wollte ihr noch nicht ganz gehorchen. Sie klang noch immer etwas rau und brüchig. Als sie sich räusperte um ein weiteres Mal anzusetzen, durchzogen erneut Schmerzen ihren Körper. Diesmal gingen sie nicht nur von ihrem Bein, sondern auch von ihrem Kopf aus. Suchend tastete sie nach der Ursache für den stechenden Schmerz am Hinterkopf und berührte dabei eine fremde Hand. Sie zuckte zusammen – ein böser Fehler, denn sofort wurde sie erneut von Schmerzen überflutet.

Vorsichtig drehte sie den Kopf um den zweiten Mann in Augenschein zu nehmen. Zu ihrer Überraschung erblickte sie statt eines wettergegerbten Zwergengesichtes das Antlitz eines Mannes aus ihrem Volk.

„Habt vielen Dank für eure Hilfe. Ich denke, von nun an werde ich es allein schaffen", sagte sie und wandte ihr Gesicht wieder ab. Unter Schmerzen und der größten Anstrengung, diese nicht zu zeigen, setzte sie sich langsam auf und betrachtete sich selbst. Sie sah furchtbar aus. Blut und Schmutz waren störende Makel auf ihrem weißen Kleid, das am Saum in Fetzen hing und die Kratzer, die sie sich auf der Flucht durch das Unterholz zugezogen hatte, verunstalteten die Haut ihrer Beine – von dem Pfeil in ihrem rechten Oberschenkel ganz zu schweigen. Scham machte sich in ihr breit. Warum mussten diese Männer sie so sehen? Warum musste der Elb sie so sehen? Wenn er doch nur auch ein Zwerg wäre! Der fand sie hoffentlich auch in dieser Verfassung schön, immerhin war er so etwas Bezauberndes wie Elben nicht gewohnt. War sie denn nicht schon genug gestraft?

„Was ist mit den anderen?", rief der Zwerg zu einem dritten Mann hinüber, der auf sie zukam und den sie bisher noch gar nicht beachtet hatte.

Der Angesprochene schüttelte den Kopf. Er musste nachgesehen haben, ob Arminas und Anion noch lebten. Dass Arminas tot war, hatte sie schon gewusst, aber etwas in ihr hatte sich verzweifelt an dem Gedanken festgehalten, Anion könnte sich nur tot stellen. Dieses Etwas hatte nun seinen Platz verlassen und nichts als Leere zurückgelassen. Sie hätte heulen können. Wenn sie in diesem Moment doch nur alleine wäre! Die drei Männer sollten verschwinden. Was auch immer ein Mensch, ein Elb und ein Zwerg in diesen Landen suchten, sie sollten sich auf ihr Ziel konzentrieren und sie in Ruhe lassen. Sie wollte alleine sein. Sie wollte ihren Gefühlen freien Lauf lassen, aber dafür mussten erst die Männer verschwinden.

„Können wir etwas für Euch tun?", fragte der Mensch, als er bei ihr angekommen war.

„Nein, ich komme schon zurecht", erwiderte sie.

Die drei Männer sahen einander an und der Mensch neigte den Kopf.

„Dann werden wir euch nun verlassen. Mögen die Valar über euch wachen."

„So, wie sie euren Weg erhellen mögen", erwiderte sie und war froh darüber, dass die drei sich nun zum Gehen wandten.

Für sie zählte nun nur noch eines: Sie musste zu Anion, musste sich vergewissern, dass der Mensch die Wahrheit gesagt hatte und ihr bester Freund nicht mehr unter den Lebenden weilte. Sie musste das Unglück mit eigenen Augen sehen.

Vorsichtig versuchte sie aufzustehen, doch der Schmerz ließ es nicht zu. Ein Wimmern entkam ihr. Panisch sah sie sich um und musste feststellen, dass der Elb sich zu ihr umgedreht hatte. Verdammt. So würdevoll wie möglich erwiderte sie seinen Blick um ihm zu bedeuten, dass alles in Ordnung sei. Erst als er sich wieder von ihr abgewandt hatte, unternahm sie einen erneuten Versuch. Wieder gelang es ihr nicht, sich aufzurichten und erneut entkamen ihr Töne des Schmerzes, die sie lieber zurückgehalten hätte. Der nächste logische Schritt wäre eigentlich gewesen, einen weiteren Versuch zu unterlassen und einfach zu krabbeln, allerdings stand sie jetzt wieder unter Beobachtung – diesmal von allen drei Männern. Sie holte tief Luft und biss die Zähne zusammen. Aufgeben war nun keine Option mehr. Diese Blöße konnte sie sich nicht auch noch geben. Wieder gab sie Gewicht auf ihre Beine und wieder versagten sie ihr den Dienst. Trotzdem versuchte sie es erneut. Sie musste es schaffen. Innerlich verfluchte sie ihren Körper bei jeder weiteren Niederlage. Und dann geschah das Wunder: Mit einem Mal stand sie aufrecht – etwas schwankend zwar, aber sie stand. Zufrieden fühlte sie den Triumph, den diese Meisterleistung mit sich brachte, in sich aufsteigen. Sie hatte es geschafft aufzustehen und nun würde sie ganz alleine zu Anion hinübergehen und sich ihrer Trauer hingeben. Die drei Männer konnten sich ruhigen Gewissens entfernen, immerhin war die Jungfrau in Nöten gerettet, und alles würde gut sein – jedenfalls wenn man davon absah, dass zwei Elben gestorben waren und auch sie selbst fast den Tod gefunden hatte.

Zuversichtlich, stolz und mit frischer Kraft machte sie einen Schritt nach vorn und wäre wohl gefallen, wenn nicht jemand sie aufgefangen hätte.

Ihr Triumph brach in sich zusammen. Dies war wohl die größte Demütigung, die sie jemals erfahren hatte. War es wenigstens der Mensch oder der Zwerg, der ihr zur Hilfe gekommen war? Sie drehte den Kopf und musste feststellen, dass ihr scheinbar gar keine Würde geblieben war. Ausgerechnet der Elb hatte den Heldenspielen müssen. Tiefer konnte sie wohl kaum sinken. Einer ihres Volkes hatte sie in einer dermaßen beschämenden Situation gesehen und musste ihr sogar helfen. Am liebsten wäre sie auf der Stelle im Erdboden versunken.

„Wir werden Euch nach Hause bringen", sagte der Elb und es klang weniger nach einem Angebot als nach einem Befehl. Kraftlos ergab sie sich in ihr Schicksal. Dann sollte es so sein.

Sternenlicht - Legolas FFDove le storie prendono vita. Scoprilo ora