Kapitel 43 - Esther

Start from the beginning
                                    

Ich fördere aus meiner Rocktasche das Schreiben zutage, das Martha von meinem neuen Arbeitgeber Graf von Guondal erhalten hat. Nachdem ich seine Anweisungen überflogen habe, umrunde ich das Haus, um nach dem Hintereingang zu suchen. Es hat einen schalen Beigeschmack, das Haus nicht über den Vordereingang betreten zu dürfen, aber mir ist auch bewusst, dass diese Vorgabe nicht unüblich ist.

Die Hintertür ist schmal und aus Holz. Drei ausgetretene Steinstufen führen hinab. Ich lasse das Küchenmädchen mit dem Komposteimer heraus, bevor ich die schmale Stiege hinuntersteige und mich in einem schmalen Korridor wiederfinde, der sich rechterhand zu einer großen, dampfgeschwängerten Küche öffnet. Der Unterschied zu Orlands Haushalt ist frappierend. In Reginas Reich herrschte ein eigener Zustand von Gemütlichkeit. Es wurde gearbeitet, aber auch ausgeruht und sich unterhalten. Hier herrscht hektische Betriebsamkeit. Fünf Küchenjungen und -mädchen hetzen zwischen den Töpfen umher, rühren, schneiden, schälen, putzen, während die füllige Köchin umhergeht, kritisiert und die Gerichte abschmeckt.

Minutenlang stehe ich einfach nur da und weiß nichts mit mir anzufangen, ehe mich eines der Küchenmädchen bemerkt und fragt: „Wer sind Sie denn eigentlich?" „Esther Griffel", antworte ich ohne zu zögern, um die geringe Aufmerksamkeitsspanne der Arbeitenden nicht verstreichen zu lassen. „Ich bin die neue Gouvernante."

„Dann haben Sie in der Küche nichts verloren", schnarrt die Köchin. „Tessa, nimm sie mit und such nach Carmen", weist sie das Küchenmädchen an, das auf mich aufmerksam geworden ist. „Aber lass dir nicht zu viel Zeit. Der Graf erwartet Gäste und das Mittagessen muss perfekt sein."

Tessa fordert mich mit einer Geste auf, ihr zu folgen. Wir eilen weiter durch den Korridor, sie wirft immer wieder einen schnellen Blick in die angrenzenden Zimmer, ehe sie im vierten fündig wird. Eine erschöpft aussehende Frau in den Dreißigern hat ein rüschiges Kleid in Kindergröße auf den Knien und bessert es mit konzentriert gefurchter Stirn aus.

„Carmen", macht Tessa auf uns aufmerksam und die Frau blickt auf. „Das ist Fräulein Griffel, die Gouvernante." Mit einem entschuldigenden Lächeln verabschiedet sich das Küchenmädchen, um wieder an ihre Arbeit zu gehen. Das Hausmädchen setzt ein paar letzte akkurate Stiche, ehe sie das Kleidungsstück beiseitelegt und sich mir zuwendet.

„Dann folgen Sie mir mal", fordert sie mich geschäftig, aber nicht unfreundlich auf. Über die Dienstbotentreppen steigen wir einige Stockwerke hinauf. Dabei erläutert sie: „Der Graf sieht es nicht gerne, wenn die Bediensteten sich im Haus bewegen. Wenn Sie alleine unterwegs sind, würde ich ihnen raten, auch die Dienstbotentreppen zu verwenden. Als Ausnahme gilt natürlich, wenn Sie mit den Mädchen unterwegs sind. Sabina ist sieben und Lassa ist sechs. Die beiden sind ziemlich verwöhnt, aber im Großen und Ganzen gar nicht so schrecklich. Den Lehrplan finden Sie in Ihrem Zimmer, ebenso Ihre Kleidung, die Sie zu Arbeitszeiten immer zu tragen haben. Einige Änderungen müssen Sie eventuell selbst noch vornehmen, die letzte Gouvernante war ein wenig fülliger als Sie."

„Warum ist sie denn gegangen?", frage ich nach. Carmen zuckt mit den Schultern. „Es gab keinen bestimmten Grund. Der Graf wollte die Stelle für Sie freimachen und da musste Fräulein Haak gehen." Ich schlucke. „Das tut mir leid, das wollte ich nicht." Carmen schenkt mir ein kurzes Lächeln. „Machen Sie sich keine Gedanken. Der Graf tauscht regelmäßig seine Bediensteten, immer dann, wenn er meint, etwas Besseres gefunden zu haben. Fräulein Haak ist wunderbar mit den Mädchen zurechtgekommen, aber sie hatte nicht die Qualifikationen, die Sie aufweisen können. Und dass Sie Ihr letztes Mündel als Hofdame an den calischen Hof bekommen haben, ist die wohl größte Referenz, die eine Gouvernante mitbringen kann. Waren Sie nicht auch mal Hofdame?" Ich nicke. „Ja, allerdings ist das schon eine Weile her." „Sehen Sie, noch eine Tatsache, die dem Grafen gefallen haben dürfte. Kurz bevor er die Gräfin geheiratet hat, war er mit einer Hofdame verlobt, die ihn kurz nach der offiziellen, prunkvollen Verlobungsfeier für einen besseren abserviert hat. Heute ist sie die Fürstin von Kroesus. Zumindest hat er seit damals eine Wut auf die Hofdamen und genießt es vermutlich, dass nun eine unter ihm arbeitet."

Ich muss schlucken. Das hört sich ja vielversprechend an. Ich erinnere mich daran, dass Theodora vor ihrer Liierung mit Fürst von Kroesus anderweitig verlobt gewesen ist, allerdings hätte ich nicht mehr zuordnen können, dass ihr damaliger Verlobter Graf von Guondal ist.

Nachdem wir zahlreiche Stockwerke hinaufgestiegen sind, finden wir uns unter dem Dach wieder. Carmen weist mir meine Kammer zu, die ein schmales Bett, eine Kommode und einen ausgetretenen Teppich enthält. Außerdem bilde ich mir ein, dass es leicht zieht.

Auf dem Bett liegt ein schwarzes Kleid mit weißem Kragen, das an einen Nonnenhabit erinnert, dazu ein weißes Spitzenhäubchen.

„Also, ich hoffe, Sie finden sich zurecht", meint Carmen. „Sie haben den Tag heute, um sich umzusehen, aber bitte denken Sie daran, sich nicht allzu auffällig durch das Haus zu bewegen. Der Graf bekommt heute Besuch und sieht es ungern, wenn dieser mit seinen Angestellten konfrontiert wird. Ich werde mich mal wieder an die Arbeit machen."

Sie verlässt das Zimmer und schließt die Tür hinter sich. Ich lasse mich auf das harte Bett fallen. Eine Erkenntnis macht sich in mir breit und wühlt mein Inneres aus. Mir wird klar, dass ich erneut einen Fehler gemacht habe. Und dass ich verdammt lange gebraucht habe, um es zu bemerken.


Die GouvernanteWhere stories live. Discover now