Kapitel 6 - Neue und Alte Erinnerungen - Part 4

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War wirklich schon so viel Zeit vergangen?

Leya war überrascht, entschied sich aber die Tatsache nicht zu hinterfragen, sondern einfach dankbar dafür zu sein. Elissa zog ein mürrisches Gesicht, öffnete aber die Klappe und zeigte Leya somit ihren Weg in die Freiheit. Mit einem kleinen, ziemlich peinlichen Jauchzer sprang Leya einfach hindurch und landete auf dem Fußboden des Stockwerks darunter. Sie sah einen breiten Männerrücken und blauschwarze Haare, deren Besitzer gerade auf die Treppe zulief.

Sofort lief Leya hinter ihm her und rief: „Cal! Cal! Danke!"

Lachend sprang die kleine Blondine auf seinen Rücken und gab ihm einen kleinen Kuss auf die Wange. Ja, sie war überdreht, aber es war ein schönes Gefühl die Freiheit zurückzuerlangen. Nicht nur Elissa, sondern auch die stetige Präsenz der Frage, ob die Ennas recht hatten, war plötzlich von ihr abgefallen.

„Das war wirklich die Hölle! Sags ihr aber nicht. Elissa hasst mich schon genug. Und ich hab wirklich mein bestes gegeben mich mit ihr zu vertragen. Danke, dass du gekommen bist und mich befreit hast, mein Held!" Das sagte sie schon deutlich leiser. Ihr Retter war stehen geblieben und Leya hatte keine Schwierigkeiten damit sich vorzubeugen um ihm einen Kuss auf den Mund zu geben. Doch bevor sie seine Lippen erreichte, blickte sie in seine Augen.

Das Rechte war zwar dunkelblau, aber das Linke... Das Linke war braun.

„Ich bin der falsche Bruder." raunte ihr Leander ins Ohr. Sie konnte seinen Atem ganz deutlich auf ihrer Haut spüren, genauso wie seine Hüftknochen an ihren Oberschenkeln.

Seine Stimme war – wie immer – abweisend und kalt.

Leya zuckte augenblicklich zurück, verlor das Gleichgewicht und landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden.

Leander beobachtete sie aus kühlen Augen, wie sie auf dem Boden hockte und gereizt fauchte: „Und das konntest du nicht früher sagen?!"

Sein rechter Mundwinkel zuckt leicht nach oben. Nur für einen kurzen Moment zwar, aber trotzdem lang genug, damit Leya das sehen konnte. Sie schwieg augenblicklich.

Hatte Leander gerade eine Gefühlsregung gezeigt, die nicht auf Wut, Misstrauen und Verachtung gründete?! Und zwar gegenüber ihr, Leya?! War das etwa seine verdrehte Version eines belustigten Lächelns gewesen?! Okay, Belustigung war nicht viel besser als Verachtung, aber immerhin. Ein Fortschritt.

Leander hatte sich schnell wieder gefasst und sagte mit seiner abschätzigen Stimme: „Cal ist unten. Er sitzt schon am Tisch."

Da das für Leander wohl das Ende des Gesprächs war, drehte dieser sich um und überwand die paar Meter bis zur Treppe innerhalb von einem Wimpernschlag. Er ging nach unten mit Elissa die – wohl von Leya unbemerkt – vor ihm die Treppe bereits betreten hatte.

Leya wusste nicht, was sie von der ganzen Sache halten sollte, also verbannte sie die jüngsten Ereignisse aus ihren Gedanken und rappelte sich auf.

Nach kurzer Suche entdeckte Leya die anderen in der Küche. Leander, Elissa und Cal saßen dort an dem bereits gedeckten Tisch.

Erst jetzt sah Leya sich richtig hier um. Das letzte Mal war sie zu beschäftigt mit allem anderen gewesen, als dass sie genauer realisiert hätte wie es hier aussah. Das Zimmer war recht heimelig eingerichtet. Neben der Kochstelle, die die komplette linke Wand einnahm, gab es auf der hinteren, rechten Seite einen großen, massiven Esstisch aus festem, dicken Eichenholz. Daran standen Bänke mit Lehnen, in die verschnörkelte Zeichen eingeschnitzte worden waren. Auf der Sitzfläche lagen gemütlich aussehende Kissen und an den weißen Wänden hingen Bilder von Gebirgsketten. Leya meinte die Alpen und das Himalajagebirge auf Zweien zu erkennen. Die Tür zum Hinterhof lag gegenüber von der Kochstelle, rechts neben dem Esstisch. Unterm Strich erinnerte der Raum an eine Skihütte.

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