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Ich schreckte hoch. Anscheinend war ich wohl über meinen Hausaufgaben eingeschlafen. Verschlafen rieb ich mir über die Augen und blickte aus dem Fenster. Die Wellen klatschten gegen den Strand und rollten wieder zurück ins Wasser. Etwas verwirrt rieb ich mir über die Augen, ob mir meine Fantasie vielleicht einen Streich spielte. Aber nein, da robbte wirklich etwas über den Strand. Das war merkwürdig. Robben gab es hier schon lange nicht mehr und dann gleich 3 so große. Ich trat näher an mein Fenster um sie besser sehen zu können. Ich hatte noch nie etwas davon gehört, dass Robben etwas hinter sich herzogen. Aber diese drei am Strand zogen irgendetwas hinter sich her. Aber so sehr ich versuchte meine Augen scharf zu stellen um das Ding zu erkennen. Ich konnte es nicht erkennen. Plötzlich musste ich so heftig Gähnen, dass mein Kiefer knackte. Als ich wieder aus dem Fenster sah waren die Robben verschwunden. Vielleicht hatte mir doch meine Fantasie einen Streich gespielt. Ich schlurfte ins Bad, zog meine Schlafsachen an und putze mir die Zähen. In meinem Zimmer knipste ich die Schreibtischlampe aus und tapste im Dunklen in mein Bett. Der Vormittag morgen würde eine Qual werden. Das wusste ich jetzt schon.

Ein penetrantes Piepen weckte mich am nächsten Morgen. Murrend streckte ich meinen Arm unter der warmen Decke hervor um es abzustellen. Ich setze mich auf und rieb mir über die Augen. Ich sollte auf jeden Fall früher ins Bett gehen. Müde schwang ich die Beine aus dem Bett und torkelte ins Bad. Dort stellte ich mich sofort unter die heiße Dusche. Wenigstens hatte ich nicht verschlafen. Nach dem ich mich abgetrocknet und meine Haare geföhnte hatte ging ich zurück in mein Zimmer. Ein schneller Blick auf die Uhr sagte mir, dass ich noch gute 30 Minuten hatte bevor ich mich auf den Weg zur Schule machen musste. Genügend Zeit um mir zu überlegen was ich anziehen sollte und für ein Frühstück. Da es nicht sonderlich warm draußen aussah entschied ich mich für eine Jeans und ein dunkelblau-weiß gestreiftes Langarmshirt. Meine Haare ließ ich offen. Seufzend betrachtete ich mein Spiegelbild. Ich fragte mich wirklich, was Kiran an mir fand. Ok, meine Augen waren schön. Groß und schillernd grün und meine Haare fand ich auch ganz passable. Aber der Rest von mir? Meine Nase war klein und stand etwas zu weit nach oben weg. „Himmelfahrtsnase" sagte meine Oma oft dazu, keine sonderlich schmeichelhafte Bezeichnung . Außerdem war ich zu blass, selbst im Sommer und von meinen Sommersprossen wollte ich gar nicht erst anfangen. "Jetzt reicht es aber" schimpfte ich laut mit mir selber. "Wo ist eigentlich dein Selbstbewusstsein geblieben?" Das hatte sich wahrscheinlich zusammen mit meinem gesunden Menschenverstand seit der Begegnung mit Kiran verabschiedet. Ich brauchte dringend mehr Schlaf. Seufzend wand ich meinen Blick vom Spiegel ab und kramte in meiner Schmuckdose nach Ohrringen und einem Armband. Inzwischen war es 7:00. Ich hatte also immer noch Zeit für ein schnelles Frühstück. Ich schnappte mir meine Schultasche und ging die knarzende Treppe nach unten.

Nach einer Tasse Kaffee und einer Scheibe Brot war ich einigermaßen wach. Ich schloss die Haustüre hinter mir ab und stiefelte zum Gartentor. Beinahe wäre ich von einem vorbeirasenden Polizeiauto mitgenommen wurden, dessen Fahrer die enge Kurve in meiner Straße wohl unterschätz hatte. Nur mit Mühe konnte ich mich mit einem Sprung hinter das Gartentor retten. "Hey" rief ich empört. Polizei hin oder her auf Fußgänger musste man wohl trotzdem achten. Nach dem sich mein Herzschlag wieder normalisiert hatte lief ich los in Richtung Schule, die zum Glück nur 5 min von meinem zu Hause entfernt lag. Unterwegs kamen mir nicht viele Leute entgegen. Wer ging schon freiwillig um halb acht aus dem Haus? Pünktlich um 7:35 war ich im Schulgebäude. Ich wollte meine Verspätung von gestern wieder gut machen. Nele umarmte mich störmisch. "Hast du es schon mitbekommen?" fragte sie ganz aufgeregt. "Nele, ich hatte heute Morgen definitiv keine Zeit um Zeitung zu lesen und das Radio hatte ich auch nicht an." Ich hängte meine Jacke über den Stuhl und setzte mich. Nele ließ sich neben mir nieder. "Die Polizei hat schon wieder ein totes Mädchen am Strand gefunden. Genau das gleiche, wie bei den anderen Mädchen. Ertrunken. Linchen, ich mach mir Sorgen um dich! Du wohnst direkt neben dem Strand. Was ist, wenn du die Nächste bist!" "Warum die Nächste? Ich dachte, sie ist ertrunken? Wie die anderen Mädchen." "Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass das alles Unfälle oder Suizide waren?! Die Polizei geht inzwischen von einem oder mehreren Serientätern aus." Nele holte tief Luft. "Versprich mir, dass du auf dich aufpasst" forderte sie mich auf. "Mach ich" erwiderte ich. Frau Sacher, die gerade ins Klassenzimmer gerauscht kam, hielt Nele davon ab mein Versprechen mit Blut zu besiegeln. Auch, wenn ich vor Nele mich cool gab, die Sache jagte mir wahnsinnig Angst ein.

Als es zum Schulschluss klingelte war ich unsäglich erleichtert. Endlich Wochenende! "Hast du Lust mit mir Mittagessen zu gehen?" fragte mich Nele. "Meine Eltern sind heute Nachmittag auf einer Fortbildung für modernes Gesteck binden oder so was." Neles Eltern hatten ein kleines und auch einziges Blumengeschäft auf der Insel. "Klar. Gehen wir zum Italiener?" Nele nickte.
Es war nicht sonderlich voll, obwohl es Mittag war und die meisten Leute Mittagspause hatten. Wir suchten uns einen kleinen Tisch am Fenster und bestellen bei der freundlichen Bedingung, die sofort nach unseren Wünschen fragte, Pizza und Cola. Während wir auf unser Essen warteten, meinte Nele plötzlich "Sie haben Schleifspuren am Strand entdeckt." Ich verschluckte mich heftig an meiner Cola. Ich musste so husten, dass Nele erschrocken aufstand und hektisch auf meinem Rücken herumklopfte. Bestimmt habe ich da morgen einen gigantischen blauen Fleck dachte ich mir im Stillen. "Alles klar bei dir? Mein Gott, Alina! Du bist hochrot!" Sie wedelte mir mit einer Speisekarte Luft zu. Sie war wirklich die beste Freundin, die man sich wünschen konnte. "Mir geht es gut" presste ich hervor, als ich wieder Luft bekam. "Na, zum Glück. Habe ich was Falsches gesagt?" Ich druckste herum, war mir nicht sicher, ob ich meine Entdeckung von letzter Nacht erzählen sollte oder nicht. Sie würde mich bestimmt dazu überreden wollen mit meinen Beobachtungen zur Polizei zu gehen. Ich entschied mich dagegen. "Es hat mich nur erschreckt, dass es doch so deutliche Anzeichen für Mord sind" gab ich lahm zurück. Nele sah mich zwar immer noch skeptisch an, aber zum Glück kam die Pizza und brachte Nele davon ab weiter zu bohren. "Sag mal, Linchen. Möchtest du mir vielleicht etwas erzählen?" Fragte Nele scheinheilig, nach dem sie schweigend die Hälfte der Pizza verputz hatte. Ich hielt inne mit Essen und die Gabel schwebte eine Sekund in der Luft, die ich gerade zum Mund führen wollte. "Ähm...wollte ich das?" Mir viel wirklich nicht ein, was sie von mir hören wollten. "Ja, wolltest du!" Gab sie mit Nachdruck zurück. Ich dachte angestrengt nach. "Menschens Kind, Alina! Manchmal bist du echt schwer von Begriff. Wann wolltest du mir von dem super heißen Typen erzählen, mit dem du jetzt schon zweimal gesehen wurdest?" Verdammt, scheinbar war diese Spelunke gestern noch nicht weit weg genug gewesen. "Ich...das ist noch so frisch. Ich mein, ich bin nicht mit Kiran zusammen..." "Noch nicht" unterbrach mich Nele und hob anzüglich eine Augenbraue, ehe sie sich ein weiteres Stück Pizza in den Mund schob. "Ich glaube auch nicht, dass es soweit kommt. Omi hat nämlich aus irgendeinem Grund etwas dagegen." Nele kaute nachdenklich auf ihrer Pizza herum. "Na ja, soweit ich das verstanden habe, ist dein Kiran auch gut 10 Jahre älter, als du." Am liebsten hätte ich meinen Kopf auf die Tischplatte gedonnert. Etwas geheim halten war auf dieser blöden Insel so gut wie unmöglich. "Was weist du den noch alles über ihn?" fragte ich, leicht verärgert. "Die Schuhgröße, seine Hobbys, Beruf, Familienstand? Kommt jetzt als nächstes, dass er in Wirklichkeit verheiratet ist und zwei Kinder hat?" Meine Stimme wurde lauter und ich wusste selber nicht warum ich überhaupt wütend wurde. "Jetzt krieg dich mal wieder ein. Das war doch nicht böse gemeint" versuchte Nele mein Temperament zu zügeln. Missmutig schob ich mir ein neues Stück Pizza in den Mund. Es schmeckte nach Pappe. Ich ließ den Rest liegen. "Wenn du reden willst..." setzte Nele an, doch ich schüttelte nur den Kopf. Im Moment wollte ich nicht über Kiran reden. "Ich glaub, ich geh jetzt. Sonst machen sich meine Eltern noch Sorgen, wo ich bleibe." Das war eine glatte Lüge, immerhin waren ihre Eltern gar nicht da. Nele stand auf und umarmte mich. Als sie ihren Geldbeutel zückte, um zu zahlen, winkte ich ab. "Lass stecken, ich lad dich ein." Nele lächelte mich an. "Danke schön, Linchen. Wir sehen uns am Montag oder schreiben am Wochenende." Sie drückte mich noch einmal und verabschiedete sich mit einem "Bye" von mir. Ich blieb sitzen und bestellte noch eine Karamell Latte. Die war wirklich göttlich hier. Während ich so da saß und an meiner Latte nippte, dachte ich an heute Abend. Wir mussten wirklich vorsichtig sein und vor allem durfte keiner sehen, dass ich mit zu Kiran nach Hause gehe. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war halb fünf. Kiran wollte mich um 20 Uhr abholen und ich wollte mich noch ein bisschen meinem Aussehen widmen. Ich erhob mich und legte 30 € neben mein Glas. Dann verließ ich das Restaurant.

Siren CallWhere stories live. Discover now