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Ich lag im Bett und starrte die Decke an. Vielleicht hatte ich falsch reagiert, vielleicht hätte ich mehr auf meine Großmutter eingehen müssen. Sie hatte immer noch mit dem Verlust meiner Mutter und ihrer einzigen Tochter zu kämpfen. Vielleicht hätte ich sie in den Arm nehmen müssen um den Schmerz aus ihren Augen zu wischen. Aber ich konnte es einfach nicht. So sehr ich meine Oma liebte, so schmerzte es trotzdem zu wissen, dass sie mir jahrelang nicht die Wahrheit gesagt hatte. Ich war mir nicht mal sicher ob sie mir überhaupt jemals die Wahrheit erzählt hätte, wären die...Sirenen nicht wieder aufgetaucht. Ich rollte mich auf die Seite und starrte aus dem Fenster. Von Kiran hatte ich auch keine Nachricht erhalten. Ehrlich gesagt war ich mir immer noch unsicher woran ich bei ihm war und diese Tatsache frustrierte mich ungemein. Ich fühlte mich ziemlich erschlagen. Zu viel war passiert und zu viele Informationen waren innerhalb von Tagen auf mich eingeprasselt. Die Tatsache, dass ich am Montag wieder zur Schule musste und nicht wusste, wie ich das ohne Nele schaffen sollte machte die ganze Situation auch nicht gerade leichter. Wie sollte ich ohne meine beste Freundin mein Abi schaffen? Ich rollte mich wieder auf den Rücken. Obwohl ich müde war und meine Körper danach schrie endlich zu schlafen schaffte ich es einfach nicht. Meine Gedanken liefen in Dauerschleife durcheinander, vermischten Ereignisse und hinterließen ein einziges Chaos in meiner sonst so gut sortierten Oberstube. Entnervt stand ich auf und tapste zu meinem Schreibtisch, knipste meine Schreibtischlampe an. Dann kramte ich mein Zeichenpapier aus meiner Zeichenmappe, legte meine Bleistifte zurecht und fing an zu Zeichnen. Meistens fing ich mit den Augen an und malte das Gesicht um eben diese. Heute machten sich meine Finger allerdings selbstständig. Hier ein Strich, dort eine wirre Haarsträhne, Augen starrten mich durchdringen an und die vollen Lippen verführten einen geradezu sie zu küssen. Kiran. Scheinbar war meine Sehnsucht nach ihm größer, als ich es zugeben wollte. Genervt wollte ich es schon wegreißen und zusammenknüllen. Doch dann überlegte ich es mir anders, glättet die Seite und verstaute sie in meiner Mappe. Erstaunlicherweise hatte es gut getan ihn zu zeichnen. Zumindest waren meine Gedanken ruhiger und mein Körper nahm langsam die willkommene Bettschwere an, die ich so sehr liebte. Ich rutschte von meinem Stuhl, knipste das Licht aus und tapste zurück ins Bett.

Der Duft von Pancakes und Kaffee weckte mich. Verschlafen räkelte ich mich und vergrub meinen Kopf unter meinem Kopfkissen. Ich war noch zu müde um aufzustehen. Mein Magen, der sich gerade mit einem fordernden Knurren zu Wort meldete, schien das allerdings anders zu sehen. Also schwang ich die Beine aus dem Bett und angelte mir meinen Morgenmantel von meinem Schreibtischstuhl. Gähnend öffnete ich meine Zimmertüre und tappte die Treppe nach unten. Oma stand am Herd, einen Pfannenwender in der einen, die Pfanne in der anderen Hand. "Morgen" nuschelte ich und goss mir ein Glas Orangensaft ein. "Morgen" Meine Großmutter war heute eindeutig besser gelaunt als ich. "Setz dich doch schon mal hin. Ich bin hier gleich fertig." Ich setzte mich, goss mir und ihr Kaffee in die Tasse. Dann löffelte ich einen Löffel Zucker hinein und verzog das Gesicht als ich einen Schluck davon nahm und mir natürlich prompt die Zunge an der heißen Brühe verbrannte. "Hast du heute was geplant?" fragte Oma beiläufig während sie einen Berg Pancakes vor mir abstellte und sich gegenüber von mir setzte. "Mhmpf" machte ich nichtssagend. "Nicht wirklich. Vielleicht leg ich mich nachher ein bisschen an den Strand. Das Wetter schreit ja gerade zu danach." Ich nahm mir einen Pancake. "Ich wollte noch mal zu Celia. Vielleicht möchtest du mit?" Ich sah sie skeptisch an. "Warum? Ich mein, warum fährst du schon wieder zu Celia? Und nein, ich fahre nicht mit. Ich muss morgen wieder zur Schule falls es dir entgangen ist." Ich wusste, dass ich extrem bissig und zickig klang. Schuldbewusst stopfte ich mir eine Gabel des runden Teigfladens in den Mund. Er schmeckte nach nichts. Omas Gesicht verfinsterte sich. "Weil ich es hier nicht mehr aushalte. Alles erinnert mich an deine Mutter. An jedem Fleck hier kommt irgendeine Erinnerung hoch." Ich schluckte runter. "Und warum jetzt? Das war vorher doch genauso?" Ich sollte den Mund halten, ich sollte es einfach hinnehmen und nicht mehr weiterbohren, aber ich tat es trotzdem. "Verdammt noch mal, Alina! Behandele mich nicht wie eine Schwerverbrächerin." Sie warf die Gabel heftig klappernd auf den Teller. "Es tut mir leid" murmelte ich zerknirscht und schob den Teller von mir. Mir war der Appetit vergangen. Sie holte tief Luft. "Vielleicht ist es besser, wenn ich für ein paar Wochen oder Monaten bei Celia bleibe." "Ja, vielleicht hast du Recht. Vielleicht ist es ganz gut wenn wir ein bisschen Abstand voneinander haben." Ich nickte nur. Sie hatte Recht. Zumindest irgendwie. Sie sah aus, als wollte sie noch was sagen, schloss aber dann doch den Mund. Vielleicht war meiner Oma in diesem Moment wieder klar geworden, dass ich mehr oder weniger erwachsen war und sie nicht mehr für mich entscheiden konnte, sondern mir nur Ratschläge erteilen konnte.

Oma fuhr am späten Vormittag los und mich überkam das dumpfe Gefühl, dass es ein Fehler gewesen war nicht mitgegangen zu sein. Schnell schüttelte ich dieses Gefühl ab. Die Sonne brannte heiß vom Himmel und ich verschob meinen Strandtag auf den späten Nachmittag. Ich hatte keine Lust auf einen Sonnenbrand oder schlimmer einen Sonnenstich, also verzog ich mich in die kühle Wohnung. In meinem Zimmer verdunkelte ich sämtliche Fenster, legte mich auf mein Bett und dachte nach. Ich wusste nicht, warum ich mich meiner Oma gegenüber so feindselig verhielt. Sie wollte mich ja wirklich nur schützen und trotzdem fühlte ich mich verraten und verletzt. Seufzend rollte ich mich auf die Seite und warf einen Blick auf die Uhr. Halb fünf. Vielleicht war es jetzt kühler. Also schnappte ich mir meine Badetasche, warf kurz einen prüfenden Blick hinein. Alles drin. In der Küche angelte ich mir eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank und packte sie auch noch hinzu. Vielleicht hatte ich heute Glück und ich könnte heute einfach nur am Strand liegen ohne von einem Gewitter überrascht zu werden oder eine Leiche zu finden. Oder beides. Der Himmel war strahlend blau und die Sonne brannte vom Himmel. Es war heiß. Also nahm ich mir von der Garderobe noch meinen großen Regenschirm. Den würde ich zum Sonnenschirm umfunktionieren. Der Asphalt flimmerte und ich wunderte mich darüber, dass ich mit meinen Flip-Flops nicht auf dem heißen Teer festklebte. Am Strand war es minimal kühler. Mein Lieblingsplatz an den großen Felsen war noch frei. Ich breitete meine große blaue Decke auf dem Sand aus, platzierte meinen Schirm an der richtigen Stelle und schlüpfte aus meinem Sommerkleid. Nach dem ich mich großzügig mit Sonnenmilch eingecremt hatte, beschloss ich eine Runde ins Wasser zu gehen. Die kleinen Wellen umspielten meine Knöchel. Das Meer war angenehm kühl und ich warf mich mit einem kleinen Quietschen in das kühle Nass. Ich liebte das Wasser, es beruhigte mich. Als sich meine Lungen langsam nach Sauerstoff sehnten, tauchte ich auf und schwamm ein Stückchen vom Strand weg. Ich drehte mich auf den Rücken, streckte die Arme aus, lies mich treiben. Mit geschlossenen Augen dümpelte ich auf dem Wasser, als sich plötzlich warme Hände um meine Taille schlossen. Erschrocken ries ich die Augen auf und wollte gerade zu einem Schrei ansetzten, da tauchte ein nur allzu bekanntes Gesicht vor mir auf: Kiran. "Hast du den Verstand verloren?" fauchte ich ihn an. Das war wohl nicht die Reaktion, die er sich erhofft hatte. "Du kannst mich doch nicht so erschrecken." Mein Versuch möglichst wütend auszusehen scheiterte daran, dass ich erstens mit dem Armen ruderte, wie ein Hund und zweitens immer wieder Salzwasser in meinen Mund floss, dass ich äußerste undamenhaft ausspucken musste. "Also, eigentlich hätte ich mich über dies Art der Begrüßung mehr gefreut." Noch ehe ich mich wehren konnte, hatte er mich schon an den Hüften gepackt, zog mich zu sich und drückte seine warmen, weichen Lippen auf meine. Ich sträubte mich zuerst, drückte meine Hände gegen seine Brust, um ihn von mir zu stoßen, bis er anfing mit seinen Händen Kreise auf meinen Bauch und meine Hüften zu malen. Das war's. Fordernd drückte ich meine Zunge gegen seine Lippen, verlangte nach Einlass. Ehe meine Hände auf Wanderschaft gehen konnten, schob mich Kiran sanft von sich. "So, das war jetzt eine anständige Begrüßung." Seine blauen Augen waren dunkel und schimmerten wie Saphire aus seinem markanten Gesicht. "Wir sollten aus dem Wasser. Das Salz ist nicht gut für deine Haut." Was wusste er bitteschön über meine Haut? Ich zuckte mit den Schultern und schwamm ihm nach.

Ich lag dösend halb auf Kiran, halb auf der Decke und malte Muster mit meinem Finger auf seine Haut. Er brummte zufrieden, spielte mit meinen Haaren. Eigentlich müsste ich ihn mit meinem Verdacht konfrontieren, ihn ausfragen wo zum Teufel er die letzten Tage gesteckt hatte. Aber ich wollte den Moment nicht zerstören und außerdem war ich zu träge um zu diskutieren oder um zu streiten. Das würde ich noch früh genug müssen und im Moment wollte ich das hier einfach nur genießen. Den meine innere Stimme, die sich in den letzten Tagen verdächtig ruhig verhalten hatte, sagte mir, dass das hier nur die Ruhe vor dem Sturm war.

Siren CallWhere stories live. Discover now