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Nachdem Kiran mich nach Hause und unter die Dusche verfrachtete hatte, saß ich nun in einer warmen Decke eingehüllt auf meinem Bett, einen Becher Tee in der Hand und eine Wärmflasche um meine Füße. Kiran selber saß im Schneidersitz am Fußende. Ich war nervös und wusste auch genau warum: Ich wartete auf die Frage, denn sie würde kommen. Was hast du mitten in der Nacht halbnackt am Strand zu suchen? Dabei konnte ich mich an so gut wie gar nichts mehr erinnern. Meine Erinnerungen waren weg, nachdem ich die Füße über die Bettkante geschwungen hatte, als hätte jemand das Verbindungskabel gekappt. Das Nächste, an das ich mich wieder bewusst erinnerte war der Geruch nach Mann und Kirans Körperwärme. Ich spürte seinen Blick auf mir, starrte aber weiterhin stur in meine Teetasse. "Vielleicht sollte ich langsam gehen. Deine Großmutter wird bald heimkommen." Kirans tiefer Bariton durchschnitt die Stille. Nun blickte ich doch auf und direkt in seine kobaltblauen Augen. "Ja, vielleicht ist es das Beste" murmelte ich. Obwohl alles in mir schrie ihn anzuflehen bei mir zu bleiben. Doch ich ignorierte diese stummen Schreie. Ich nickte, starrte weiter in meine Teetasse. Das Bett senkte sich und ich blickte auf. Direkte in diese blauen Augen, die in mich zu blicken schienen. Ganz zart und behutsam, als hätte er Angst ich könnte bei der kleinsten unachtsamen Bewegung zerbrechen, strich er mit seiner Hand über meine Wange. Automatisch schmiegte ich meinen Kopf dagegen. Diese unschuldige Berührung brachte mein Herz dazu in einem wilden Stakkato zu schlagen. "Kann ich dich morgen sehen?" fragte er. Sein Atem strich kühl über mein Gesicht. Erst jetzt wurde mir bewusst wie nahe er vor mir saß. Ich nickte nur, denn meine Kehle war zu trocken um zu antworten. Schnell nahm ich einen hastigen Schluck von meinem inzwischen kalten Tee. Kiran beugte sich vor und strich mit seinen Lippen federleicht über meine Stirn. Dann stand er auf und stieg die knarzenden Stufen hinunter ohne noch ein Wort zu sagen. Wenige Sekunden später hörte ich wie die Haustüre unten ins Schloss fiel. Fast sofort stellte sich wieder dieses leere Gefühl in mir ein. Mein Herz schmerzte und ich wäre am liebsten hinter Kiran her, um ihn anzuflehen hier zu bleiben. Doch ich blieb auf dem Bett sitzen und beobachtete fast schon distanziert wie das leere Gefühl in eine innere Taubheit überging. Eigentlich müsste mir das Angst machen, tat es aber nicht. Ich hieß das Gefühl fast schon willkommen, denn wenn ich fühlte konnte ich nicht verrückt sein. Noch einmal ging ich die Geschehnisse der Nacht durch. Der Gesang aus dem Meer, Kiran, der mich in seinen Armen hielt, mich wärmte.

Als ich am nächsten Morgen wach wurde, fühlte ich mich, als sei eine Herde Elefanten über mich getrampelt. Einen Blick auf dem Wecker verriet mir, dass ich verschlafen hatte und das nicht zu knapp. "Verdammt" fluchte ich und sprang aus dem Bett. Augenblicklich überkam mich ein heftiger Schwindel. Das war dann wohl doch etwas zu schnell gewesen. Ich torkelte ins Bad und konnte beim Anblick meines Spiegelbildes einen kleinen Schrei nur mit Mühe zurückhalten. Meine grünen Augen, die mein ganzer Stolz waren, lagen in tiefen Höhlen und waren zudem noch mit tiefen, schwarzen Augenringen verschönert. Meine ohnehin schon unbezähmbaren roten Locken standen in alle Richtungen ab und wirkten stumpf. Außerdem war meine ohnehin schon blasse Haut beinahe wächsern, wie bei einer Wasserleiche. Nur die rötlichen Abdrücke meines Kissens verrieten, dass unter meiner Haut noch Blut floss. Schaudernd ging ich unter die Dusche. Vielleicht würde eine Dusche mein Aussehen ändern. Ich war sowieso schon zu spät dran, dann würden 20 Minuten später auch nichts mehr ausmachen. Dieser Gedanke war neu. Normalerweise achtete ich genau darauf pünktlich zu sein und wenn ich schon Gefahr lief zu spät zu kommen, dann beeilte ich mich immer um nicht noch später zu kommen. Heute nicht. Inzwischen war es halb neun, die ersten zwei Stunden waren sowieso gleich vorbei, dann würde ich eben nach der großen Pause kommen. Punkt. Das heiße Wasser tat gut und als ich aus der Dusche in das von Dampfschwaden durchzogene Badezimmer trat, bestätigte mir der Blick in den Spiegel, dass ich nicht mehr ganz so schrecklich aussah. Zufrieden trocknete ich mich ab und föhnte meine Mähne.

Es war halb zehn, als ich das Schulgebäude betrat. Ich stapfte die Treppe in den zweiten Stock hinauf in mein Klassenzimmer. Wie in jeder Pause war es hier relativ ruhig. Die meisten kauften sich etwas beim Bäcker und trafen sich mit Freunde aus den anderen Klassen oder aber rauchten um bis zur nächsten Pause um 11:05 durchzuhalten ohne Entzugserscheinungen zu bekommen. Als ich das Klassenzimmer betrat saß nur Nele an unserm Platz am Fenster. Sie knabberte an einem Stück Brot herum und starrte Gedankenverloren aus dem Fenster. Als ich den Stuhl neben ihr zurückschob um meine Jack über die Lehne zu hängen zuckte sie merklicher zusammen. "Gott sei Dank, du bist noch da" rief sie und fiel mir so stürmisch um den Hals, dass ich beinahe das Gleichgewischt verlor. "Du erdrückst mich!" keuchte ich und sie löste sich wiederstrebend wieder von mir. "Wo hätte ich den hingehen sollen?" fragte ich verwunderte und stellte meine Tasche neben den Tisch. "Sag bloß, du hast es noch nicht mitbekommen?!" "Was hätte ich den mitbekommen sollen?" Ich sah ganz genau, dass Neles Mundwinkel verdächtig zuckten. Ich kannte sie seit dem Kindergarten und wusste, dass das ein Zeichen von wachsender Ungeduld war. "Gestern Abend wurde ein Mädchen als vermisste gemeldet. Sie ist gerade mal 18! Und als du heute Morgen nicht in die Schule gekommen bist, habe ich Panik bekommen, verstehst du?" Beruhigend strich ich ihr über den Arm. "Ich habe nur verschlafen. Schlecht geschlafen gestern Nacht" Bodenlose Untertreibung. Ich habe gestern nach dem Kiran gegangen war noch drei Stunde versucht mich zu erinnern. Als ich dann endlich einschlief war es bereits 4 Uhr morgens. "Das sieht man" meinte Nele. "Danke, ich liebe dich auch." War es nicht eigentlich ihre Pflicht als beste Freundin mir zu sagen, dass man mir das gar nicht ansah? "Jetzt sei doch nicht gleich eingeschnappt. Du weißt schon wie ich das meine." Ich lächelte matt, lange konnte ich ihr sowieso nie böse sein. Mit dem Klingeln, das das Ende der Pause ankündigte, füllte sich auch das Klassenzimmer wieder. "Was haben wir jetzt?" Mit einem Grinsen wedelte Nele mit ihrem Geschichtsbuch vor meiner Nase herum. Das war Antwort genug.

Nach der Schule ging ich ohne Umwege nach Hause. Bereits als ich die Haustüre aufschloss merkte ich, dass Oma nicht da war. Ich war mir nicht einmal sicher ob sich gestern überhaupt nach Hause gekommen war. Ich schlüpfte aus Schuhen, Jacke und wickelte den Schal von meinem Hals, dann tapste ich in die Küche um mir etwas zu essen zu machen. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel.

Bin für zwei Tage kurzfristig verreist. Celia hat mich zu sich nach Hause eingeladen. Essen ist in der Gefriertruhe. Mach keinen Unsinn und wenn es Probleme gibt, geh zu Elisa.

Ich habe dich Lieb,

Oma

Ich las den Zettel einmal, zweimal und mich beschlich das Gefühl das etwas nicht stimmte. Oma würde nie ohne Grund Celia besuchen. Sie hatte keinen besonders engen Kontakt zu ihren Geschwistern und zu ihrer Schwester schon gleich dreimal nicht. Etwas verwirrt öffnete ich den Gefrierschrank. Verhungern würde ich schon mal nicht, dachte ich, als ich den gut gefüllten Schrank sah. Ich schob mir ein Stück Kartoffelgratin auf einen Teller und verfrachtete diesen in die Mikrowelle. Ich wollte mir gerade die erste Gabel in den Mund schieben, als es an der Tür klingelte. Etwas genervt stand ich auf, schlurfte zur Haustüre und öffnete sie. Vor mir stand Kiran. Ein Lächeln schlich sich automatisch auf meine Lippen. "Hi" hauchte ich. Auch er lächelte. "Hi" Kiran räusperte sich. "Kann ich vielleicht reinkommen?" "Ähm...ja" sagte ich und machte Platz. Er musste den Kopf ein bisschen einziehen, damit er sich selbigen nicht am Türrahmen anstieß. Mir war noch gar nicht aufgefallen, dass er so groß war. "Stör ich?" fragte er und deutet auf meine Teller. "Nein, du störst nicht" antwortete ich schnell. "Setzt dich. Willst du auch was?" Verlegen sah ich ihn an. Ich war noch nie eine besonders gute Gastgeberin gewesen. "Nein, danke, aber ein Glas Wasser wäre nett" Ich nickte nur und verschwand in der Küche.

Siren CallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt