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Als ich am nächsten Morgen wach wurde regnete es. Schon wieder. Im Herbst war es hier immer ziemlich nass. Es war Sonntag, mein Langschläfer-Tag. Vor 10 brachte mich da keiner aus dem Bett. Ein Blick auf den Wecker verriet mir, dass es gerade mal halb neun war. Stöhnend rollte ich mich wieder unter meiner Decke zusammen und versuchte erfolglos wieder ein zu schlafen. Es klappte einfach nicht. Schließlich stand ich auf und beschloss Frühstück zu machen. Ich zog mir meinen Bademantel über und tapste die Treppe nach unten. Omi war, wie jeden Sonntag, in der Kirche. Das war die einzige Eigenschaft, die ich an ihr etwas seltsam fand. Der sonntägliche Kirchengang. Das passte nicht wirklich zu ihr. Ich stellte zwei Gedecke auf den Tisch und schaltete das Radio ein. Insel von Juli schallte mir entgegen. Ich summte leise die Melodie mit, während ich Butter, Käse, Marmelade und Wurst auf den Tisch stellte. Danach fischte ich die Tiefkühlbrötchen aus dem Gefrierschrank und legte sie zum Aufbacken in den Ofen. Währenddessen stellte ich Wasser für die Eier auf und kochte Kaffee. Keine Ahnung, woher mein plötzlicher Tatendrang kam.

Omi war ziemlich erstaunt, als sie um halb elf aus der Kirche kam und einen gedeckten Tisch vorfand. Normalerweise musste sie das machen. "Ist auch alles in Ordnung bei dir?" Sie wirkte ernsthaft besorgt. "Ja, es ist alles gut, Omi. Ich konnte einfach nicht mehr schlafen." Meine Oma nickte nur und schnitt ihr Brötchen auf. Das Frühstück verlief recht schweigsam. Nur das Radio dudelte im Hintergrund vor sich hin. Nach dem Frühstück räumte ich den Tisch ab und stellte das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine. Omi hatte sich in den Keller verzogen und ging ihrem Hobby, dem Nähen, nach. Als die Küche ordentlich aufgeräumt war und die Spülmaschine vor sich hin brummte, ging ich hinauf in mein Zimmer und setzte mich dort an den Schreibtisch. Irgendwie hatte ich das dringende Bedürfnis zu zeichnen. Das Zeichnen war meine größte Leidenschaft. Andere schrieben Tagebuch, um ihre Gefühl zu verarbeiten, ich zeichnete. Das Meer wurde als große graue Fläche auf dem weißen Papier sichtbar. Davor der Strand. Eine Person stand in der Brandung. Köpfe trieben wie runde Kugeln auf den Wellenkämmen. Ich wusste nicht, warum ich das zeichnete. Vielleich, weil es mich verwirrt hatte. Nachts waren keine Menschen am Strand und schon gleich dreimal nicht im Wasser. Als ich mit der Zeichnung fertig war, war ich eigentlich ganz zufrieden mit mir. Auch wenn sie ziemlich wirr war. Schnell packte ich sie in die Mappe, in der ich alle meine Zeichnung aufbewahrte. Vielleicht stimmte es ja was man über mich auf dieser Insel tratschte: Das ich verrückt war, einen Schaden durch den frühen Verlust meiner Eltern hatte. Ins Gesicht sagen würden sie mir das natürlich nie. Seufzend legte ich mich aufs Bett und schloss die Augen. Das Bild wollte einfach nicht aus meinem Kopf. Die Gestalt am Strand, die runden Köpfe auf den Wellen. Es war zum Verrückt werden. Schließlich hielt ich es auf dem Bett nicht mehr aus. Ich warf einen Blick aus dem Fenster. Der Regen hatte sich gelegt, aber der Himmel war immer noch von dunkelgrauen Wolken verhangen, die neuen Regen ankündigten. Trotzdem zog ich Jeans und Pulli an und ging die Treppe hinunter. Im Flur schlüpfte ich in Schuhe und eine warme Windjacke. "Ich geh spazieren" schrie ich in die Wohnung und schloss die Haustüre hinter mir.

Der Wind schoss mir entgegen und peitschten meine Haare in alle Richtungen von meinem Kopf weg. Vielleicht wäre es doch besser gewesen in der warmen Wohnung zu bleiben. Aber ich war zu Stur, um mir das einzugestehen und umzudrehen. Jetzt war ich schon hier und vielleicht blies der Wind meine Gedanken wieder in richtige Bahnen. An den Strand zu laufen würde heute zu gefährlich werden, das war sogar mir klar. Also entschied ich mich für den Wald. Lieber wurde ich von einem Ast erschlagen, als jämmerlich zu ertrinken. Ich versuchte gerade mir meine peitschende Mähne aus dem Gesicht zu streichen, als ich gegen einen warmen Körper prallte. Beinahe wäre ich auf den nassen Weg geknallt, hätten mich nicht zwei warme Hände festgehalten. "Hoppla", ein tiefer Bariton, der in meinen Bauch wiederhallte. Ich sah durch meinen Haarschleier einen Mann um die 30. Er trug einen schwarzen Mantel und dunkel Jeans. Seine Haare waren schwarz, schimmerten fast blau. Anders als meine Locken lagen sie ordentlich auf seinen Schultern ohne auch nur einen Hauch aus der Reihe zu tanzen. Verlegen strich ich mir meine Haare aus dem Gesicht. Mir lag eine Entschuldigung auf der Zunge, die mir allerdings im Hals steck blieb, als ich sein Gesicht sah. Seine Gesichtszüge waren beinahe übernatürlich schön. Seine Haut hatte die Farbe von Karamell, sein Kinn war kantig, die Wangenknochen markant. Am liebsten hätte ich meine Hand ausgestreckt um über seine Wange zu streichen, auf denen ein dunkler Bartschatten lag. Ich wollte wissen ob er kratzen würde auf meiner Haut. Ein Schauer rannte über meine Wirbelsäule. Am meisten aber faszinierten mich seine Augen. Sie waren von einem dunklen Kobaltblau und ich versank in ihnen. Doch dann riss ich mich zusammen. Dann stand eben ein atemberaubend schöner Mann vor mir, na und? Von so was ließ ich mich nicht betören. "Dank, mir geht es gut" meine Stimme zitterte nur ein kleines bisschen und ich hoffte, dass ihm das nicht auffiel. Erst jetzt fiel mir auf, dass seine Hände immer noch auf meiner Taille lagen und dass wir viel zu nahe beieinander standen. Ich trat einen Schritt zurück und seine Hände verschwanden von meiner Taille. Sofort fühlte sich die Stelle kalt und leer an. Entschieden schob ich diesen Gedanken ganz weit weg von mir. Der Mann vor mir sah mich fragend an. Allen Anschein nach hatte er mich was gefragt, während ich mit meinem inneren Monolog und stummen Schmachten beschäftig war. "Wie bitte?" fragte ich und ärgerte mich darüber, dass diese Frage so beschämt klang. Er lächelte, zeigte dadurch eine Reihe ebenmäßiger, weißer und, wie ich feststelle, überaus scharfer Zähne. "Ich hatte dich gefragt, was du bei diesem Mistwetter draußen machst?" Ich antwortete nicht gleich. "Zu Hause ist mir die Decke auf den Kopf gefallen. Ich musste einfach raus." Das war nicht einmal gelogen. "Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich ganz gerne weiterlaufen." Ich machte Anstalten, zu gehen, doch er hielt mich am Arm fest. "Darf ich dich auf einen Kaffee einladen? Du musst vollkommen durchgefroren sein. Außerdem würde ich gerne mehr über dich erfahren." Wieder schenkte er mir dieses umwerfende Lächeln. Ich zögerte. Wenn ich mich hier mit einem fremden Mann, der auch noch einiges Älter war, als ich, in ein Café setzten würde, würde das den Klatsch ziemlich anheizten. Und das gefiel mir. Ich stimmte zu und kurz meinte ich ein triumphierendes Lächeln auf seinen Lippen zu erkennen. Schweigend führte er mich zu dem kleinen Café in der Nähe, dass einer Freundin meiner Oma gehörte. Er hielt mir die Türe auf und ich schlüpfte unter seinem Arm hindurch. Dabei fiel mir auf, wie gut er roch. Irgendwie rein, frisch und nach Meer. Berauschend. Schnell steuerte ich einen kleinen Tisch am Fenster an. Er setzte sich mir gegenüber. Die Kellnerin war ziemlich schnell da und fragte Wimper klimpernd nach unseren Wünschen. Ich bestelle einen Milchkaffee, er bestellte ein Wasser. "Wie heißt du eigentlich?" fragte ich mutig. Er lächelte. "Kiran." Nach meinem Namen frage er nicht. Wir schwiegen wieder. Die Kellnerin brachte mir meinen Milchkaffee und stellte Kiran sein Wasser vor die Nase. Mit einem, vermutlich verführerischen, Augenaufschlag beugte sie sich zu Kiran vor und flüstere ihm was ins Ohr. Dann stöckelte sie mit wiegenden Hüften zum nächsten Gast. Komischerweise verspürte ich bei dieser Szene einen Hauch von Eifersucht in mir Hochsteigen. Schnell verscheuchte ich das Gefühl und rührte in meinem Kaffee. "Erzähl mir was von dir, Alina." Seine tiefe Stimme vibrierte tief in mir und ich zitterte leicht. Aus seinem Mund klang mein Name wie eine Liebkosung. "Was soll ich dir von mir erzählen." Unbewusst hatte ich mich weiter zu ihm vorgebeugt. Er trank einen Schluck von seinem Wasser und ich sah gebannt zu, wie er sich mit seiner Zunge über seine vollen Lippen leckte, von denen ich am liebsten sofort gekostet hätte. Das Räuspern von Elisa, der Besitzerin, brachte mich wieder zur Besinnung. Hastig setze ich mich zurück und wurde Rot vor Scham. Was war gerade passiert? Ich war doch sonst auch nicht so forsch? "Alina, Liebes, meinst du nicht es wäre besser für dich, wenn du nach Hause gehen würdest? Deine Großmutter hat sich gerade eben bei mir nach die erkundigt." Etwas verdattert nickte ich. "Ok." Das war seltsam, normalerweise machte sich meine Oma keine Gedanken über mich, wenn sie wusste, wo ich war und wenn ich um achtzehn Uhr wieder zu Hause war. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war gerade Mal halb vier. Elisa warf Kiran einen feindseligen und gleichzeitig ängstlichen Blick zu. "Sie sollten jetzt besser gehen." Ihre Stimme war so eisig, als wollte sie Kiran einfrieren. Doch mir viel auf, dass ihre Stimme ganz leicht zitterte. Kiran warf mir noch einen Blick aus seinen kobaltblauen Augen zu, dann erhob er sich mit einem Laut, der beinahe wie ein Knurren wirkte. Elisa zuckte zurück. "Verschwinde!" Zischte sie. Das Zittern in der Stimme war stärker geworden. Kiran drehte sich noch einmal zu mir um und deutete mit seinem Zeigefinger auf mich. "Wir sehen uns wieder, Alina." Dann verschwand er durch die Türe ins Freie.

"Alina, halte dich von ihm fern. Er ist nicht gut für dich und gefährlich." Innerlich rollte ich mit den Augen. Das Gerede kannte ich nur aus meinen Liebesromanen, für dich eine große Leidenschaft hegte. "Ich kenn ihn nicht mal" gab ich zurück. "Verspreche mir trotzdem, dass du dich von ihm fernhältst." Von dem Altersunterschied, der ohne Zweifel da war, erwähnte sie nichts. "Okay" murmelte ich. Ich gab ihr das Geld für den Kaffee, verabschiedete mich von ihr und verließ das Café. Ein seltsames Gefühl der Leere breitete sich langsam in mir aus. Ich hatte es schon bemerkt als Kiran das Café verlassen hatte und je weiter ich mich meinem Zuhause nährte, weiter von ihm weg, desto größer wurde dieses Loch in mir. Es schmerzte beinahe körperlich und ich konnte mir einfach nicht erklären woher das kam. Vielleich hatte ich mir was eingefangen. Immerhin war es inzwischen wirklich kalt geworden. Ich schloss die Wohnungstüre auf und der Geruch von Pizza schlug mir entgegen. Sofort knurrte mein Magen. Ich schlüpfte aus Jacke und Schuhe und ging nach oben um meine Hände zu waschen.

Omi begrüßte mich mit einem knappen Nicken. Ich erkannte sofort, dass sie wütend war. Fast schon aggressiv schnitt sie die Pizza in Stücke. Der Tisch war schon gedeckt und ich setzte mich. "Omi...es tut mir leid, dass ich mich nicht gemeldet habe..." Doch sie unterbrach mich rüde. "Darum geht es nicht, Alina. Sondern darum, dass du dich mit einem wildfremden Mann im Café triffst. Und noch dazu mit einem, der um einiges älter als du ist und einen schlechten Ruf haben." Wütend legte sie mir ein Stück Pizza auf den Teller, obwohl mir der Appetit inzwischen vergangen war. "Es tut mir ja leid, aber..." "Kein "Aber"" Sie seufzte, dann trat sie vor mich und strich mir über die Wange. "Kind, ich will nur dich nicht auch noch verlieren. Treff dich in Zukunft einfach nicht mehr mit ihm, in Ordnung?" Ich verstand nicht, was sie damit meinte, nickte aber trotzdem, da ich nicht glaubte, dass ich Kiran jemals wiedersehen würde.

Siren CallWhere stories live. Discover now