Kapitel 9 - Auf Messers Schneide

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Auf dem Bauch liegend, abgestützt auf meine Ellebogen, drückte ich mich durch die schmale Öffnung vorwärts, während das Gebrüll der Kreaturen langsam, aber stetig näher kam. Mit anhaltender Beständigkeit bohrten sich kleine Steine in meine Haut an den Armen und Beinen und hinterließen tiefe Kratzer. Mit zusammengebissenen Zähnen ignorierte ich die Schmerzen und schob mich weiter durch den engen Korridor. Immer wieder rieselte Dreck auf mich, als die Steine über mir zusammen rutschten und bedrohlich nahe kamen. In all der Zeit, die ich in diesem Irrgarten mit meiner Flucht verbracht hatte, war ich schon oft in ähnlichen Situationen und hatte dadurch gelernt, meine Platzangst zu überwinden. Trotzdem wurde mir etwas mulmig zu Mute.

Dieser Gang existiert wahrscheinlich schon seit Jahrhunderten, warum sollte er gerade heute einstürzen? – Entschlossen verscheuchte ich die beängstigenden Bilder, in dem Nadelöhr von herabstürzenden Steinmassen zerquetscht zu werden und kroch weiter vorwärts. Zu allem Übel spürte ich, dass sich die Wunde an meinem Knie wieder geöffnet hatte und der frische Verband bereits mit Blut getränkt war. So sehr ich mich auch bemühte, immer wieder blieb ich mit meiner Hose an den schroffen Felskanten hängen und benötigte mehrere Versuche, um mich wieder zu befreien. Was in dem engen Gang nicht immer einfach war und meist von dem Geräusch zerreisenden Stoffs begleitet wurde. Staub rieselte immer wieder auf mich herab, und die stickige und trockene Luft erschwerte mir das Atmen.

Gemächlich ging der Weg bergauf und der Tunnel wurde breiter. Somit konnte ich mich endlich wieder, in einer viel bequemeren Haltung weiter fortbewegen. Das Geröll, das mich nun umgab, bestand nur noch aus großen, behauenen Quadern, reich verzierten Säulen und anderen steinernen Elementen, die so ineinander verzahnt waren, dass sie ein unüberwindbares Hindernis ergaben, für jeden der kräftiger und größer war als ich. Und selbst für mich war es nur unter großer Anstrengung möglich gewesen, diese Barriere zu passieren.

Schließlich hatte ich das erlösende Ende erreicht und steckte vorsichtig den Kopf durch die Öffnung, die sich etwa zwei Meter über dem kahlen Boden befand. Als ich sicher war alleine zu sein, kletterte ich hastig die Wand hinunter, glücklich wieder aufrecht stehen zu können und dieser beklemmenden Enge, fast unbeschadet entkommen zu sein. Was man von meiner Kleidung nicht behaupten konnte. In langen Fetzen hing mir die Hose an den Beinen herunter und warmes Blut strömte aus meiner Verletzung am Knie die Wade entlang. Ich entfernte den überflüssigen Stoff und nutzte einen der Jeansstreifen, um den inzwischen blutroten Verband zu wechseln. Meinen einstigen Vorrat an Pelargoskraut hatte ich schon längst aufgebraucht. Eigentlich wuchs es hervorragend auf steinigem Grund, doch vielmehr als ein paar vertrocknete Pflanzen, war nicht zu finden. Das Labyrinth hatte sich endgültig gegen mich verschworen.

Doch als ich mich umblickte war ich gar nicht mehr so sicher, ob ich mich überhaupt noch in dem steinernen Irrgarten befand. Der geheime Tunnel hatte mich in eine Höhle geführt, deren tatsächliche Größe kaum zu schätzen war, mit einer Decke in einer unerreichbaren Höhe. Die Ausmaße der Mauer, durch die ich mich gekämpft hatte, waren ebenso gewaltig, als wäre sie einst von Riesen errichtet worden. In ihr waren noch die Umrisse eines gigantischen Tores zu erkennen, in dessen ursprüngliche Öffnung ohne weiteres ein mehrstöckiges Haus gepasst hätte. Sind das die Außenmauern meines jahrelangen Käfigs? Hab ich es nach all der Zeit doch geschafft zu entkommen?

Die Hoffnung entflammte wieder in mir auf und ich suchte nach weiteren Hinweisen. Neben dem ehemaligen Portal lag eine große, steinerne Tafel mit einer Innenschrift. Sie war scheinbar absichtlich von der Wand gerissen worden und durch den Aufprall auf dem Boden in mehrere Teile zersprungen. Tiefe Spuren von Krallen durchzogen die blaugraue Oberfläche. Jemand hatte versucht, den Text unkenntlich zu machen, doch es war mir noch möglich, einzelne Fragmente davon zu entziffern:

... verliere nie deine Träume ...
denn sie bringen uns dazu ... zu wachsen

Es war nicht das erste Mal, dass ich solch eine steinerne Texttafel gefunden hatte: Es gab zahlreiche von ihnen, und wahrscheinlich hatte ich bei weitem nicht alle entdeckt, trotz meines schon Ewigkeiten andauernden Aufenthalts in dem Labyrinth. Ein Großteil dieser Steinplatten, war mit rätselhaften Versen versehen. Nicht mehr als Bruchstücke, voller Lücken und sinnlosen Wortfetzen. Versteckte Hinweise, doch durch den Zerfall nur noch unverständlich und somit unlösbar.

Somnia: Zwischen zwei Welten - Band 1: Der Hüter der ErinnerungenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt