Kapitel 10 - Abgrund

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Die angsterfüllten Schreie der Kreaturen, mischten sich in das donnernde Getöse der Steinmassen, die zusammen mit mir, in den bodenlosen Abgrund stürzten. Mein Körper hatte sich in ein lebendiges Geschoss verwandelt und kannte nur eine Richtung – Nach unten. Ein Sturz in einen endlosen Kaninchenbau.

Während ich weiterhin immer mehr an Fahrt aufnahm, wurde es beharrlich dunkler um mich herum, und es war schwer zu sagen, wie weit der Grund noch entfernt war. Bald verschluckte die vorherrschende Finsternis sämtliche Geräusche um mich herum. Selbst das Gekreische der zwei Bestien, die mit mir in die Tiefe gestürzt waren, war nicht mehr zu hören. Da war nur noch die Dunkelheit und ich. Nichts weiter. Es war, als hätte ich mich in den grenzenlosen Weiten des Weltalls befunden, nur ohne die Sterne, Planeten und Sonnen. Es war vielmehr ein schwarzes Loch, bestehend aus einer Masse, die so dicht gepackt war, dass sie alles in sich aufsog und selbst das Licht am Entkommen hinderte.

Bei dieser Geschwindigkeit bin ich sicher nicht mehr weit vom Mittelpunkt dieser Welt entfernt. Und es würde mich nicht wundern, wenn ich auf der anderen Seite wieder an die Oberfläche kommen würde. Aber wahrscheinlich wird mein Fall ewig dauern und ich werde nie den Boden des Abgrunds erreichen.

Seltsame Gedanken jagten mir durch den Kopf, während ich meinem sicheren Tod entgegenblickte. Jedoch war es so, als wären es nicht meine eigenen, sondern dass ich mich vielmehr an die Worte einer sehr guten Freundin erinnerte. Eine Freundin, die mich mit Geschichten von ihren Abenteuern unterhalten hatte, denen sie stets ohne Furcht entgegenblickte. Sie konnte allen Dingen, so aussichtslos sie auch sein mochten, etwas positives abgewinnen. Doch sie war nicht mehr, als ein gesichtsloser Geist meiner scheinbaren Vergangenheit. Nur ein verblasster Erinnerungsfetzen. Sie waren mit der Zeit stärker geworden, traten immer häufiger ohne Vorwarnung auf und füllten meinen Kopf. Etwas veränderte sich, das konnte ich fühlen.

Doch was nützte es mir? Noch immer stürzte ich in einen dunklen Schlund, von dem ich nicht ausgehen konnte, dass mich auf dessen Grund trockenes Laub und Reisig erwartete, um meinen Sturz abzufangen. Innerlich hatte ich bereits mit meinem Leben abgeschlossen, in der Hoffnung mein Aufprall wäre kurz und schmerzlos. Egal was für mich bereitstand, jedes Ende erschien mir angenehmer, als mich in den Fängen des Königs der Bestien wiederzufinden. Er hätte mir bestimmt keinen schnellen Tod gewährt, sondern mich leiden lassen und sich an meinen Qualen ergötzt.

Vielleicht werde ich wirklich ewig fallen – Ich war bereit mich meinem Schicksal hinzugeben, als ein heller Blitz an mir vorbeischoss. Kurz darauf tauchte ich in einen goldenen Schimmer, der mich sogleich vollkommen umschloss.

»Schnell! Du musst an etwas Schönes denken, damit es funktioniert! Denk an etwas, das dir Freude bereitet!«, erklang eine aufgeregte Stimme neben meinem Ohr. »Los, mach schon!«

»Du machst wohl Witze? Ich stürze gerade ohne Fallschirm in die endlose Tiefe und soll dabei an etwas Schönes denken? Das kann nicht dein Ernst sein!«, schrie ich hinaus, ohne zu wissen, wer eigentlich mit mir gesprochen hatte. Kalter Wind schlug mir nun entgegen und trieb mir die Tränen in die Augen. Die starken Böen zogen an meiner Kleidung und warfen mich hin und her.

»Halt die Klappe, Wuschelhaar, und mache endlich was ich dir sage! Es bleibt nicht mehr viel Zeit!«

Noch immer hatte ich keine Ahnung, wer mir diese seltsamen Befehle gab, und ich verstand nicht was es bewirken sollte, aber es war der einzige Hoffnungsschimmer, den ich in diesem Moment noch besaß. Doch so sehr ich mich auch bemühte, es wollten mir keine schönen Erinnerungen in den Sinn kommen, während ich genauso hilflos wie einst Ikarus vom Himmel fiel. Alles was mich einst ausmachte, hatte ich verloren, als ich vor einer Ewigkeit in diesem Labyrinth erwachte. Und meine Zeit an diesem seltsamen Ort lehrte mich nur schmerzhafte Lektionen. Denn in diesem blaugrauen Reich aus Stein, herrschte nur unbändige Gewalt und maßlose Zerstörung.

Somnia: Zwischen zwei Welten - Band 1: Der Hüter der ErinnerungenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt