Somnia: Zwischen zwei Welten - Band 1: Der Hüter der Erinnerungen

Kapitel 20 - Drei ungleiche Brüder

APRIL, VIERZEHN JAHRE ZUVOR

Die wenige Zeit, die uns noch verblieb, verging viel zu schnell und nur wenige Tage später war es soweit. Mein Bruder begann Kartons nach draußen zu tragen, wobei ich ihm so gut es ging half. Gerade als wir den letzten Karton vor das Gartentor getragen hatten, hielt ein kleines rotes Auto am Weg. Eine junge Frau stieg aus und begrüßte meinen Bruder mit einem Kuss. Obwohl ich die beiden schon so oft küssen gesehen hatte, trieb es mir jedes mal wieder die Röte ins Gesicht und ich schaute beschämt weg. Ein Kichern ertönte, als die junge Frau meine Verlegenheit bemerkte.

»Na Großer, alles in Ordnung bei dir?«, begrüßte sie mich und verwuschelte dabei mein Haar. Elli, die eigentlich Elisabeth heißt, war so anders als die Mädchen, die ich bis dahin kannte. Sie war lässig gekleidet, trug Turnschuhe und Jeanshosen, die braunen Haare zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden, der Rest von ihnen unter einem blauen Basecap versteckt, auf dessen Vorderseite ein großes weißes R gestickt war - Das Emblem ihrer Lieblings-Football Mannschaft. Ein Sport, dessen Regeln ich bis heute nicht verstanden habe, obwohl sie so oft versucht hatte, sie mir zu erklären. Elli selbst konnte ausgezeichnet mit Bogen und Gewehr umgehen, sehr zum Leidwesen der Männer im Schützenverein, dessen Turniere sie spielend gewann. Nur beim Schießen um den Königstitel durfte sie nie antreten, denn das ließ die Tradition nicht zu. Frauen waren bei diesen Festen meistens nicht mehr als Beiwerk für ihre Männer und hatten dementsprechend eine Tracht zu tragen. Und diese sah nun mal keine Hosen vor - Für Elli undenkbar. Ich hatte sie auch noch nie etwas anderes tragen gesehen. Als meine Mutter sie darauf ansprach, antwortete sie nur: »Die Frauen haben so lange dafür gekämpft, endlich Hosen tragen zu dürfen, da werde ich jede Sekunde genießen, in der ich nicht im Büro arbeiten muss und ich anziehen kann was mir gefällt.«

»Und selbst in unserer Beziehung hat sie eindeutig die Hosen an«, fügte mein Bruder mit einem breiten Grinsen hinzu. Eine Aussage, die mein Vater nur mit einem unverständlichen Grummeln kommentierte. Eine Frau, die unabhängig war, sich nichts sagen ließ und machte was sie wollte, passte so gar nicht in sein Weltbild. Wie so vieles anderes auch, was meinen großen Bruder betraf. Ein weiterer Grund, warum er das Dorf verlassen wollte. Für mich wiederum war Elli ein Vorbild.

»Nur diese letzten Kartons, dann haben wir alles«, erklärte mein Bruder und deutete auf den Stapel Kisten, der sich am Straßenrand auftürmte. »Wir bekommen doch alles ins Auto?«

»Du wirst dich wundern: Es ist von innen viel größer, als es von außen wirkt«, gab sie ihm zurück. Als sie meine großen Augen sah, zwinkerte sie mir zu. »Es ist ein magisches Auto. Aber sage es niemanden weiter.«

Die beiden passten so gut zusammen, denn sie teilten so vieles. Vor allem ihre Liebe für Geschichten, mit denen sie mich immer wieder in Staunen versetzten. Es war schon ein Erlebnis, wenn mein Bruder mir etwas erzählte, aber wenn Elli dabei war, so wurden sie zu einem wilden Ritt, von dem ich nie genug kriegen konnte. Doch in Zukunft musste ich darauf verzichten, was mich wehmütig stimmte. Ich wollte keinen der beiden verlieren, doch darauf hatte ich keinen Einfluss.

»Das muss doch passen!«, fluchte Elli, nachdem sie zum wiederholten Male das Auto ausgeräumt und wieder mit den Kartons beladen hatten. Nach einigen weiteren Versuchen hatten sie es schließlich geschafft und saßen zufrieden mit mir auf der Bordsteinkante vor dem Haus, jeder eine kühle Limonade in der Hand. Ich beobachtete, wie die kleinen Bläschen in meinem Glas aufstiegen und an der Oberfläche zerplatzten.

»Über was denkst du gerade nach?«, fragte mein großer Bruder.

»Ob das auch alles Luftgeister sind, die nun zum Himmel aufsteigen.«Es bereitete mir großen Spaß, in jedem alltäglichen Ding etwas besonderes zu entdecken.