Kapitel 2 - Das steinerne Labyrinth

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Weiter! Immer weiter vorwärts! Einen Fuß vor den anderen und gleichmäßig atmen! Nur nicht umdrehen! – gab mir die Stimme in meinem Kopf eindringliche Anweisungen, als würde ich gerade für einen Wettlauf trainieren. Dabei war ich schon mittendrin: Ein aufgescheuchter Hase, der vor seinen Jägern versuchte zu flüchten. Und obwohl ich mir die größte Mühe gab, mich so leise wie möglich, aber trotzdem schnell genug fortzubewegen, so konnte man meinen schweren Atem vermutlich schon von weitem hören.

Nur noch ein Stück durchhalten – spornte ich mich zusätzlich selber an, während mich langsam meine Kräfte verließen und ich immer mehr damit zu kämpfen hatte, nicht über meine eigenen Füße zu fallen. Ich versuchte das Seitenstechen zu ignorieren, das mich nun schon seit einer ganzen Weile begleitete und mit jedem weiteren Schritt quälender wurde. Mit zusammengebissenen Zähnen mobilisiere ich meine letzten verbliebenen Kräfte und zog mein Tempo noch einmal an.

Allmählich wurde der schmale Gang immer breiter und mündete schließlich in eine weitläufige Halle, von der ein Dutzend Abzweigungen sternförmig in alle Richtungen abgingen. Keuchend hielt ich an und lehnte mich erschöpft an eine der grob behauenen Mauern. Mein Körper war diese Art von Anstrengungen leid – Die Muskeln schmerzten, die Lungen brannten wie Feuer und rangen nach Luft, die Füße waren schwer wie Blei. Es grenzte beinahe an ein Wunder, dass die Sohlen meiner Schuhe noch nicht durchgelaufen waren. Unablässig tropfte mir der Schweiß von der Stirn und bildete schnell eine kleine Pfütze auf dem Boden zwischen meinen Füßen. Erschöpft sank ich in die Hocke und versuchte meine Atmung zu beruhigen, ohne dabei den Tunnel hinter mir, aus den Augen zu lassen. Noch herrschte dort völlige Dunkelheit, gähnende Leere – Und Stille. Ein gutes Zeichen, denn so blieb mir etwas Zeit zum Verschnaufen und um wieder zu Kräften zu kommen.

Immer wieder hatte ich damit begonnen, mir eine Karte dieses unwirklichen Ortes zu erstellen, um mich in den zahllosen Gängen zurecht zu finden. Aber es war ein aussichtsloses Unterfangen. Das Labyrinth folgte keiner logischen Struktur, als wurde es geschaffen, um niemals bezwungen zu werden. Es gab zahlreiche Korridore, Treppenaufgänge und Ebenen. Und ebenso viele Sackgassen und unüberwindbare Hindernisse. Es hatte den Anschein, als würde sich ständig alles um mich herum verändern. Als würde dieser Irrgarten mit jedem Tag wachsen und neue Herausforderungen für mich bereit halten. Ich fühlte mich wie einst Theseus, jedoch ohne den rettenden Faden von Ariadne. Verloren zwischen all den kahlen Mauern, in endlosen Gängen und Tunneln. Gefangen an einem Ort, der vor langer Zeit von dem griechischen Erfinder Dädalus erdacht und geschaffen wurde. Nur das im Inneren nicht der Minotaurus auf mich wartete, eine mystische Kreatur zu einer Hälfte Stier und zur anderen Mensch, sondern - SIE.

Ich wusste noch immer nicht wer oder was SIE waren und aus welchem Grund sie mich jagten. Doch ich fürchtete sie mehr, als die Dunkelheit hinter mir und das Unbekannte vor mir. Ihrem Aussehen nach, schienen sie direkt den Tiefen der Hölle entsprungen zu sein. Oder einem der vielen Romane von Lovecraft, welcher in seinen düsteren Schauergeschichten von ähnlichen Geschöpfen berichtete: Abscheuliche Kreaturen, die schon seit Äonen unsere Welt heimsuchten und über jeden herfielen, der ihnen zu nahe kam, mit dem Ziel, die ganze Welt ins Chaos zu stürzen. Allein der bloße Gedanke an diese dämonenhaften Wesen, mit ihren teilweise dolchgroßen Krallen, kräftigen Reißzähnen und getrübten dunklen Augen, ließ mich erschaudern. Ich verbannte die Bilder sofort wieder aus meinem Kopf. Es reichte schon zu, dass die Welt um mich herum von diesen Dämonen beherrscht wurde. Sie mussten nicht auch noch Besitz von meinem Geist erlangen.

Inzwischen hatte ich jegliches Gefühl dafür verloren, wie lange ich schon versuchte, dieser aufgebrachten Horde zu entkommen. Tage. Wochen. Monate. Vielleicht waren es auch Jahre, es hätte mich nicht verwundert. Zu viel Zeit hatte ich bereits in diesem weit verzweigten Irrgarten verbracht, sodass mir meine Vergangenheit bald nur noch wie ein Traum vorkam, der immer mehr verblasste und kaum noch greifbar war.

Somnia: Zwischen zwei Welten - Band 1: Der Hüter der ErinnerungenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt