Kapitel 11 - Ein letzter Blick zurück

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»Ist alles gut bei dir?« Der Tod hatte meinen abwesenden Blick bemerkt und schaute mich fragend an.

»Alles in Ordnung«, antwortete ich ihm mit einem leichten Seufzen, »ich musste nur gerade, an etwas zurückdenken.« Ich steckte die schwarze Haarsträhne, mit der ich die ganze Zeit gedankenversunken gespielt hatte, zurück hinter mein Ohr und ging zu dem anderen Krankenbett. Für einige Augenblicke verharrte ich stumm an der Stelle und verlor mich im Labyrinth meiner Gedanken. Meine erste Besucherin hatte mit ihrem Auftreten eine Menge Staub aufgewirbelt, der sich nur langsam wieder legte.

»Was siehst du hier? Einen Jungen oder ein Mädchen?«, fragte ich den Dunklen nachdenklich, denn noch immer spukten mir die letzten Worte meiner Mutter durch den Kopf und ließen mir keine Ruhe. Auch wenn ich diese Sätze schon tausend Mal aus ihrem Mund gehört hatte, sie verletzten mich immer wieder zutiefst. Und manchmal ließen sie mich auch an meiner Entscheidung zweifeln. Eine Entscheidung, die mir ein richtiges Leben schenken sollte. Ein befreites Leben. Doch oft war ich stattdessen eingeengt und mir wurden plötzlich viele Dinge verwehrt, die vorher zu meinem Leben gehört hatten – Wie die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind.

»Junge? Mädchen? Für mich gibt es da keinen Unterschied. Die Frage ist doch viel mehr: Was siehst du?« Der Tod gesellte sich zu mir, und zusammen blickten wir auf den leblosen Körper hinunter.

Vor uns lag ein scheinbar ganz normales Mädchen, mit tiefschwarzen Haaren, deren Pony nur knapp über den Augen endete und somit ihrem blassen Gesicht einen dunklen Rahmen gab. Es wirkte, als würde sie träumen und ein kräftiges Schütteln an ihrer Schulter hätte genügt, damit sie wieder aufgewacht wäre. Ihr Aussehen erinnerte mich an Schneewittchen, die, nachdem sie in einen vergifteten Apfel gebissen hatte, von den Zwergen in einem Glassarg aufgebahrt wurde. Doch dies war keines der Märchen aus meinen Büchern, und es war auch kein dunkler Zauber einer bösen Stiefmutter, der dieses Mädchen in einem todesähnlichen Zustand gefangen hielt – Es war die traurige Wirklichkeit. Statt auf einer grünen Waldlichtung, befanden wir uns in einem trostlosen Krankenzimmer, und in den weißen Laken war auch keine verwunschene Prinzessin gebettet, sondern eine Patientin mit schweren Verletzungen.

Ihr starrer Körper lag leicht erhöht auf dem Bett, die Augen waren geschlossen. Zwischen den blassen Lippen befand sich ein geriffelter Schlauch, der zu einer der Maschinen führte. Auf ihrem Gesicht waren lauter kleine Verletzungen und Schnitte zu erkennen, die zum Teil mit Pflastern abgedeckt, oder mit wenigen Stichen vernäht waren. Ihre helle Haut glich Alabaster, deren einziger Makel ein abstraktes Muster aus Schnittwunden und blauen Flecken war, das sich über die ganzen sichtbaren Bereiche ihres Körpers zog. Der rechte Arm steckte bis zum Oberarm in einem weißen Gips, aus dem am unteren Ende nur noch die Fingerspitzen herausschauten, während sich an der anderen Hand, ein rot leuchtender Clip an einem der Finger befand, der über ein Kabel ebenfalls mit einem der Geräte verbunden war. Wie eine schützende Mauer, wand sich eine dicke Kunststoffmanschette um ihren Hals, die den Kopf stützen sollte und in Position hielt.

»Es hat dich wirklich ziemlich schwer erwischt«, meinte der Tod beiläufig, während er in den Krankenakten blätterte, die sich am Ende des Bettes in einem Klemmbrett befanden. »Ich bin zwar kein Arzt, aber ich habe ja einige Erfahrung mit Ereignissen, wie diesem, und so wie es aussieht, dann kannst du wirklich von Glück reden, dass du nicht gleich auf der Stelle tot warst.«

Irritiert blickte ich zu ihm auf. Für einen kurzen Moment hatte ich fast vergessen, dass ich auf mein eigenes Abbild geblickt hatte. Und vielleicht war es auch gut so.

Zu diesem Zeitpunkt konnte ich mich nur an wenige Dinge aus meinem Leben erinnern und gerade der Unfall war einer der Momente, die noch vor mir verborgen blieben. Die Begegnung mit meiner Mutter hatte erste Bilder in mir wach gerufen, die sich wie ein bunter Teppich vor mir ausbreiteten und mich dazu einluden, ihrer Geschichte zu folgen. Einzelne Schlüsselmomente, zum Teil ohne weiteren Zusammenhang. Sie erweckten in mir offene Fragen und ließen mich mit Gefühlen zurück, für die ich vorerst keine Verwendung fand, weil ich noch nicht verstand, wie sie einzuordnen waren. Doch ich wusste nun, dass ich nur zum Teil diese Person war, die im Bett vor uns lag. Zumindest äußerlich. Innerlich war ich schon immer dieses Mädchen gewesen, auch wenn ich es, für eine lange Zeit verbergen musste. Ein weiteres Seufzen entsprang meiner Kehle.

Somnia: Zwischen zwei Welten - Band 1: Der Hüter der ErinnerungenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt