Kapitel 13 - Im Bann der Worte

51 2 1
                                    

NEUNZEHN JAHRE ZUVOR

»Wo waren wir gestern stehen geblieben?« Geduldig saß ich neben meinem großen Bruder und beobachtete, wie er auf der Suche nach der richtigen Seite war. Dieses Ritual war der Moment, wo die schönste Zeit des Tages für mich begann. Sobald es zum Schlafen ging, saß ich immer erwartungsvoll auf meinem Bett, vor mir eines meiner vielen, dicken Bücher, den blauen Elefanten neben mir und wartete auf meinen großen Bruder, das er mir etwas vorlas. Meine Mutter konnte meinen Vater davon überzeugen, dass es gut war, wenn mein Bruder mehr Verantwortung übernahm und mich Abends ins Bett brachte. Eine Verantwortung, vor der sich mein alter Herr stets drückte, in dem er anderen Dingen den Vorrang gab. Noch kurz nach meiner Geburt, hatte er mich stolz dem ganzen Dorf präsentiert, doch danach ließ sein Interesse an mir, jeden Tag ein wenig mehr nach.

»Als die gute Fee den ganzen Hofstaat in Statuen verzaubert hatte, damit sie nichts von dem verwandelten Prinzen verraten konnten«, half ich meinem Bruder weiter, ohne lange darüber nachzudenken. Eigentlich kannte ich jede der Geschichten und Märchen auswendig, so oft hatte er sie mir vorgelesen. Doch ich liebte es, wenn wir zusammen auf meinem Bett lagen und er sie mir, mit verschiedenen Stimmen vortrug. Zwar hatte mir auch schon meine Mutter vorgelesen, doch durch ihn lernte ich die Welt der Worte erst richtig zu lieben. Eine Welt, die mich jeden Tag mehr in ihren Bann zog. Meine Fantasie wurde durch all diese Geschichten so sehr beflügelt, dass ich begann, zu jeder Zeit in meine Träume abzutauchen und sie zur Wirklichkeit werden ließ.

Manchmal saß ich abends am offenem Fenster, beobachtete die Sterne und suchte den Himmel ab, in der Hoffnung Peter würde kommen, um mich mit ins Nimmerland zu nehmen, wo viele Abenteuer mit den verlorenen Jungs, Indianern, Meerjungfrauen und Piraten auf mich gewartet hätten. Selbst einem Kaninchen war ich aufgeregt hinterher gelaufen, da ich dachte, es würde mir den Weg ins Wunderland zeigen. Doch noch bevor ich es erreichte, stürzte ich der Länge nach hin und schlug mir das linke Knie auf, das noch heute eine sichelförmige Narbe ziert. Nach solchen Erlebnissen verbrachten meine Eltern Stunden damit, mich davon zu überzeugen, dass nichts, was in den Büchern beschrieben war, auch der Realität entsprach. Aber das war mir egal, denn schon früh hatte ich meinen eigenen Kopf. Eine Eigenschaft, die meinen Vater immer mehr zum Verzweifeln brachte, während meine Mutter sich insgeheim in mir wiedererkannte.

Und auch mein großer Bruder, von dem mein alter Herr immer wieder verlangte, dass er es nicht noch unterstützen sollte, setzte sich heimlich über das Verbot hinweg, in dem er mir weiterhin Geschichten erzählte. Zusammen gingen wir auf Schatzsuche, mit einer alten Karte des Kapitäns Flint, entdeckten einen riesigen Pilzwald beim Mittelpunkt der Erde, besuchten den Hof von König Artus, oder tauchten mit der Nautilus Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer. Die meisten der Bücher, die teilweise schon sehr alt und zerschlissen waren, hatte meine Mutter auf dem Flohmarkt gekauft, und trotz ihres schlechten Zustandes liebte und hütete ich ein jedes von Ihnen, als wären es seltene Artefakte, aus einer längst vergangenen Epoche.

Je älter ich wurde, um so mehr regte sich in mir der Wunsch, meine Bücher selber lesen zu können. Geduldig übte mein Bruder mit mir das Alphabet und ich war stolz, als ich die ersten Worte und kleine Texte selber erfassen konnte, weit bevor ich zur Schule ging. Das Feuer in mir war entfacht, und schon nach kurzer Zeit benötigte ich keine Hilfe mehr: Ich war bereit, auch alleine in die Welt der Literatur einzutauchen. Trotzdem behielten wir es bei, dass mein Bruder am Abend zu mir kam und wir gemeinsam Geschichten lasen, während die Sterne über den Himmel meiner Zimmerdecke hinwegzogen.

Da mein Vater nicht bereit war, weiteres Geld für neue Bücher auszugeben und ich die Bücher, die ich mein Eigen nennen konnte, nach kurzer Zeit schon mehr als einmal gelesen hatte, führte mich mein Weg oft in die kleine, verstaubte Dorfbibliothek, der ich mich, seit meinem ersten Übertreten der Türschwelle, nicht mehr entziehen konnte. Bis dahin hatte ich keine Vorstellung gehabt, dass es so viele Bücher gibt, dass damit ganze Räume gefüllt werden konnten. Die Bibliothek beherbergte sogar so viele von ihnen, dass der Platz in den Regalen nicht ausreichte. Sie belegten jeden freien Winkel und stapelten sich teilweise in leicht gekrümmten Türmen, bis weit unter die Decke. Staunend und voller Ehrfurcht war ich zwischen den Büchern entlang gewandert und überflog die Titel, von denen ich noch nie zuvor gehört hatte. Mich erwartete eine Vielzahl von Werken aus den letzten Jahrhunderten, Geschichten und Erzählungen von Namenhaften Autoren aus allen Ecken der Welt. Ich verfiel dem Geruch der Druckerschwärze, liebte das Geräusch des Papiers beim Umblättern, genoss das Gefühl, wenn man mit den Fingern über die Samteinbände strich. So verbrachte ich Stunden im Dämmerlicht der alten Tischlampen und sog jedes einzelnes Wort in mich auf.

Somnia: Zwischen zwei Welten - Band 1: Der Hüter der ErinnerungenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt