|42| Verwahrlost

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Freya

Eine einfache Nachricht. Nicht mehr und nicht weniger als eine Adresse. Schockiert sah ich auf mein Handy und schnell sprang ich von meinem Bett auf, dabei fielen die leeren Eispackungen und ein paar der Schokoladentafeln herunter, doch es war mir egal. Schnell hatte ich im Internet gecheckt wo ich hin muss und schon packte ich einen Rucksack. Eine Decke, mein Geldbeutel, etwas zu essen und zu trinken. Leise schlich ich mich nach draußen, damit meine Eltern nichts mitbekommen und lief los zur nächsten Bushaltestelle. Die Fahrt dauerte aus meiner Sicht viel zu lange und ich zappelte auf meinem Sitz hin und her vor Aufregung. Dienstag Abend. Er ist seit Sonntag verschwunden und jetzt erst meldet er sich nach fucking 65 Stunden... Oder waren es sogar mehr? Egal... Hauptsache er hat sich gemeldet. Der Bus hielt an und schnell stieg ich aus um die letzten 100 Meter zu laufen. Mit meinem Handy fand ich schnell wo ich hin musste und war ziemlich überrascht, als ich den Friedhof vor mir sah. Ich musste unwillkürlich schlucken. Hier hatte er die letzten Tage verbracht? Die Anlage war nicht gerade klein und als ich durch das große Tor ging, fragte ich mich, wie ich ihn finden sollte. Doch es war tatsächlich ziemlich leicht, denn kaum ging ich in eine Richtung hörte ich seine Stimme. Sie klang kaputt und ziemlich rau. Sie hörte sich nicht so ausdrucksstark an wie sonst, sie war gebrochen, müde und hörte sich so an als würde sie jede Sekunde versagen.
Langsam, aus Angst was mich erwartet, ging ich näher. Ein Junge saß auf dem Schotter vor einem schönen Grab, sein Rücken lehnte an einem Grabstein und er redete, als würde jemand vor ihm stehen.
"Du wirst Freya lieben! Ich kann mir alles ohne sie gar nicht mehr vorstellen... Sie bringt Paris in meinem Kopf zum Schweigen und auch du hast dann mal Sendepause" Er lachte leicht, aber es klang so freudlos, dass es mir Tränen in die Augen trieb. "Ich hab dir vorhin versprochen, dass ich mein Leben wieder lebe... Okay?... Ich mach das wirklich, aber heute werd ich es noch nicht hinbekommen. Sei mir nicht böse wenn du in zwei Wochen immer noch keine wirkliche Verbesserung siehst. Ich könnte deinen enttäuschten Blick nicht ertragen und auch nicht wenn ich dich dann wieder in meinem Kopf schreien höre. Vieles wird nicht leichter werden Rachel, aber ich werde alles dafür tun, dass es besser wird! Ich möchte für dich und mit dir leben... Es geht weiter... Vielleicht nicht für dich aber für mich tut es das, auch wenn ich nicht will... Das muss ich einsehen"
Er blieb stumm und sah auf seine Oberschenkel. Er saß im Schnedersitz und seine Hände lagen klraflos auf seinen Beinen. Er sah ziemlich verwahrlost aus und ich musste schlucken. Hängende Schultern und seine Haare waren zerzaust, während seine Klamotten dreckig und alt aussehen. Ungewollt stahl sich ein Schluchtzen aus meinem Mund und er sah erschöpft zu mir auf. Ich wusste nicht wie dieser Junge es schaffte, aber er lächelte mich warm an. Und nein dieses Lächeln war nicht einmal müde oder gar trostlos... Es war echt und vollkommen vom Herzen. Er lächelte mich einfach an und das obwohl er eigentlich nichts zu lächeln hatte. Er war blass und seine Bartstoppeln, welche letzten Freitag schon mehr als nur 'drei-Tage' waren, ließen ihn älter aussehen. Seine Augen waren gerötet und man sah ihm mehr als nur deutlich an, dass er viel geweint hatte. Seine Erscheinung war zerzaust und dennoch sah er so gut aus wie eh und je. Langsam ließ ich mich neben ihm nieder und legte meine Hand kurz auf die seine um sie zu drücken. Seine Hand war eiskalt und schnell kramte ich die Decke aus dem Rucksack, um sie ihm umzulegen. Ich reichte ihm die Flasche Wasser und die Dose mit den Sandwiches. Ich hörte ein leises 'Danke' und er fing an zu essen und zu trinken. Ich beobachtete ihn dabei. Wie konnte er fast drei volle Tage hier sitzen und kaum einen Wunsch nach wärme oder etwas Essbaren empfinden?
Hatte er überhaupt geschlafen?
Seine tiefen Augenringe sprachen dagegen und irgendwie konnte ich es mir auch kaum vorstellen.
Er hat mit seiner Schwester geredet und offenbar sehr viel geweint.
Irgendwie wurde mir klar warum er niemanden erzählt hatte, dass er hier war. Er wollte einfach nur alleine mit seiner Schwester reden und ihr näher sein als in den letzten Monaten. Blake tat mir Leid und er schien selbst nicht mehr so ganz klar zu kommen. Alle Puzzelteile seines 'Absturzes' sind noch nicht zusammen gesetzt, aber ich denke er wird mit mir darüber reden. Zumindest hoffe ich das, denn dann steht nichts mehr zwischen uns. Keine Geheimnisse oder auch seine Vergangenheit. Ich weiß alles was er sich für seine Zukunft wünscht, aber die Zeit mit seiner Schwester hatte er komplett ausgelassen. Mir gegenüber hatte er nicht mal erwähnt, dass er eine hatte... Es tat tatsächlich irgendwie etwas weh, aber ich verstand es. Er konnte nicht darüber reden... Mit niemandem außer mit ihr selbst. Deswegen sitzt er seit fast drei Tagen hier, um sich alles von der Seele zu reden was ihn belastet und um sich zu versichern, dass Rachel es ihm nicht übel nehmen wird, wenn er ohne sie weiter machen sollte. Ich hoffte, dass dies der erste Schritt für Blake war... Er sollte sich nicht ewig für ihren Tod verantwortlich machen, denn es bringt weder ihm noch Rachel etwas. Sie kann nicht weiter leben aber er kann es sehr wohl. Mein Blick ging zu dem Grabstein und erschrocken weiteten sich meine Augen.

Rachel Bailey
Geboren am 17. März 2002
Gestorben am 17. August 2019

Möge unser kleiner Engel, welcher unseren Tag erhellt, auf ewig in unseren Herzen sein.
Zu früh wurdest du uns genommen, mein Engel, und nichts wird dich wieder mehr zu uns bringen können.

Sie hatte letzten Sonntag nicht nur Geburtstag, nein es war auch ganz genau sieben Monate her, als sie ihn verlassen hatte. Der Text war wunderschön und ich fragte mich, ob er nicht von Blake selbst stammt. Sein Blick sah starr auf den Stein und ich sah ein gewisses Funkeln in seinen Augen. Seine Lippen hatten sich zu einem leichten Lächeln verzogen und in diesem Moment wurde mir so vieles klar.

Ich brauche ihn.
Aber er braucht mich genauso sehr.

Take My OnusNơi câu chuyện tồn tại. Hãy khám phá bây giờ