Kapitel 30 - Orland

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Meine Nichte nickt eilig und kann den Raum gar nicht schnell genug verlassen. Ich sitze meiner Schwester nun allein gegenüber.

„Spiel dich nicht auf, Orland. Ich weiß, dass Annalies im Grunde für dich die gleiche Plage darstellt, die sie für mich gewesen ist. Es gibt sicherlich vieles, was unentbehrlich ist im Leben, aber Annalies ist es sicher nicht. Und Serlan hat ein gutes Händchen mit jungen Mädchen, glaub mir."

Mir läuft ein Schauer durch den ganzen Körper. Ich will gar nicht wissen, was dieser Serlan Ottowa mit Annalies anstellen würde.

„Weißt du, es gibt auch andere Positionen, in denen du die Anwesenheit von Fräulein..." „Griffel", werfe ich ein. Seraphina nickt. „...Fräulein Griffel rechtfertigen würdest. Als Hausmädchen zum Beispiel. Was denkst du, wie viele reiche Herren ihre Liebhaberin als Hausmädchen tarnen? Das ist sowieso viel unauffälliger als eine Gouvernante. Im Ernst, wie bist du nur auf diese Idee gekommen? Jeder Mensch weiß doch, dass Gouvernanten im Grunde immer ältere, faltige Frauen sind, die den Rohrstock schwingen. Aber keine jungen Damen, die sich mit hochgeschlossener Kleidung tarnen und den Körper einer Göttin besitzen."

Ich werfe ihr einen vernichtenden Blick zu. „Ich nehme höchsten Anstoß an deinen Unterstellungen. Esther Griffel hat hervorragende Qualifikationen und verrichtet ihre Aufgabe als Gouvernante überaus zufriedenstellend."

Wieder schleicht sich ein anrüchiges Grinsen in Seraphinas Gesicht. „Oh ja, ich stelle mir vor, dass sie dich zufrieden stellt." Ich schüttele überfordert den Kopf. „Im Ernst, Seraphina. Deine Unterstellungen führen zu weit. Wenn du mir nicht glaubst, frag Kasimir. Er hat sie mir als Erzieherin für Annalies empfohlen."

Sie wickelt eine ihrer Locken um den Finger. „Natürlich war es Kasimir. Er hat schon immer besser als du selbst gewusst, was du brauchst. Und es scheint ja funktioniert zu haben. Du wirkst sehr... gelockert."

Ich weiß nicht, was ich noch sagen kann, um meine Schwester endlich von diesem peinlichen Thema abzubringen.

Ein Räuspern an der Salontür lässt uns beide aufblicken und Esther gesellt sich wieder zu uns. Ich weiß nicht, wie viel sie gehört hat und merke, dass ich rot werde, aber ich bin dennoch froh, dass sie mich nicht lange allein gelassen hat.

„Baroness, ziehen Sie doch Baron von Mailinger nicht weiter auf. Wir Damen pflegen in Gesprächen bisweilen eine Offenheit, welche den feinen Herren unangenehm ist. In solchen Fällen sollten wir eines tun: Schweigen und uns das unsrige denken."

Ich starre sie an. Esther lächelt liebreizend und Seraphina nickt bestätigend und wendet sich bereitwillig einem anderen Thema zu. Und ich bin einfach nur verblüfft.

Die korrekte Esther lässt zu, dass meine Schwester uns eine Affäre unterstellt, nur damit ich mich nicht mit diesem Thema herumschlagen muss. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ich bin erleichtert. Vor allem aber frage ich mich, warum sie es zulässt.

„Da wir das geklärt hätten, darf ich doch sicherlich auf Ihre Unterstützung hoffen, Fräulein...", setzt Seraphina an.

„Griffel", ergänzen Esther und ich wie aus einem Mund. „Wobei möchten Sie meine Unterstützung haben, Baroness?", erkundigt sie sich bei meiner Schwester. Diese wirft mir einen abschätzigen Blick zu.

„Mein Bruder versagt mir den Kontakt zu meinem Kind. Sie als Frau können doch sicher mit mir fühlen. Ich bin Annalies' Mutter. Und eine Mutter und ihr Kind haben eine starke Beziehung. Sicherlich sind Sie und Ihre Mutter auch auf gewisse Weise eng miteinander verbunden."

Ich beobachte gespannt Esthers Reaktion. Sie hat sich das gesamte Gespräch gegenüber freundlich gegeben und mit ihrer Meinung hinter dem Berg gehalten. Doch ich kann mir nicht vorstellen, dass sie Seraphina einfach so zustimmen wird. Nicht nach dem, was ich ihr gestern mitgeteilt habe.

Doch meine Sorgen sind vollkommen unbegründet. Ich kann förmlich sehen, wie die Maske, welche Esther die letzten Minuten aufrechterhalten hat, aus ihrem Gesicht fällt.

„Baroness, meine Zustimmung gilt der Entscheidung Ihres Bruders. Allein die wenigen Minuten, die Annalies heute in Ihrer Gegenwart verbracht hat, haben sie äußerst aufgewühlt. Und ich rate Ihnen, davon Abstand zu nehmen, über Annalies verfügen zu wollen."

Seraphina klappt die Kinnlade hinunter. „Sie... Sie impertinente Hure!", schimpft sie und diese Beleidigung trifft mich, als wäre sie an mich gerichtet gewesen. „Nicht genug, dass Sie sich von meinem Bruder in sein Bett einkaufen lassen, jetzt maßen Sie sich auch noch an, über meine Tochter zu verfügen! Dazu haben Sie kein Recht! Und du, Orland", wendet sie sich an mich, „du hast kein Recht, mir meine Tochter vorzuenthalten."

Seraphinas Stimme hat einen keifenden Unterton angenommen. Dabei bedeutet Annalies ihr nicht das Geringste. Sie fühlt sich lediglich in ihrer Eitelkeit verletzt.

Ich blicke zu Esther und sehe, dass sie innerlich kocht. Ich verschränke die Arme vor der Brust. „Du irrst dich, ich habe das Recht. Sie ist mein Mündel und du hast mir unterschrieben, dass sie meiner Vormundschaft untersteht. Du hast jedes Recht, über sie zu verfügen, an mich abgegeben."

Seraphina lacht dreckig. „Dann appelliere ich an deinen Verstand, Orland. Du hast hier eine Menge Ausgaben für sie. Kleidung und eine schicke Gouvernante, oder was auch immer diese Frau ist, die dich bestimmt nicht wenig kostet." Sie mustert Esther abschätzend. „Und dabei weißt du doch, dass sie es nie weit bringen wird. Sie ist nicht auffallend hübsch. Sie ist nicht auffallend klug. Meine Güte, sie ist die Tochter eines Bediensteten! Du kannst ihr nicht einen Rang zusprechen, dem sie gar nicht genügen kann."

Esther schnaubt. „Sie kennen Ihre Tochter doch gar nicht! Und ich glaube auch nicht, dass Sie die richtige Person sind, zu beurteilen, was eine Dame für Qualitäten besitzen muss, Sie aufgeplusterte, unverschämte..."

Seraphina unterbricht sie von oben herab. „Schweigen Sie. Ich bin nicht an der Meinung einer... einer Angestellten interessiert." Für diese herablassende Art Esther gegenüber könnte ich sie erwürgen!

„Also, Orland. Serlan, mein Verlobter, hat mir da von einer renommierten Einrichtung vorgeschwärmt, in der unscheinbare Mädchen wie Annalies dazu ausgebildet werden, Männern zu gefallen und zu Diensten zu sein. Es kostet uns nicht einmal Geld, im Gegenteil, sie wird welches verdienen." Ich schaue sie nur begriffsstutzig an. Was genau will sie damit sagen?

Wieder werfe ich einen Blick zu Esther, die vor Wut im Gesicht rot angelaufen ist. Offenbar hat sie, wie immer, viel schneller begriffen, was gemeint ist. Ihre Lippe fängt an zu zittern, dann ihr gesamter Körper. Ich fühle mich wie der letzte Narr. Was habe ich nicht mitbekommen? Was bringt Esther, die beherrschte, kontrollierte Esther, so in Rage?

„Sie", beginnt sie mit zitternder Stimme, „Sie wollen Ihre Tochter in die Prostitution treiben", bringt sie das Gesagte auf den Punkt und mir wird kurz schwindelig bei dieser Vorstellung. Mein Kopf ist auf einmal vollkommen leer.

Seraphina verzieht die prallen Lippen zu einem süffisanten Grinsen. „Nun – wenn Sie es so ausdrücken wollen... Immerhin ist sie dann noch zu etwas nützlich, nicht wahr?"

Ich weiß, dass ich etwas tun, irgendwie reagieren muss, aber die Fassungslosigkeit hält mich fest im Griff.

Esther stolpert einen Schritt auf Seraphina zu und schneller, als ich realisieren kann, hat sie ausgeholt und meiner Schwester ins Gesicht geschlagen. Der Schlag schallt durch den Raum und Seraphina taumelt, einen feuerroten Abdruck im Gesicht.

Esther ist einen Augenblick wie erstarrt, dann schlägt sie die Hand vor den Mund, rafft ihre Röcke und rennt fluchtartig aus dem Salon. Ich bin nun endlich aus meiner Fassungslosigkeit gerissen.

„Hast du das gesehen?!", keift Seraphina. „Und mit solchen Menschen umgibst du dich, ja? Die Göre gehört eingesperrt! Tu doch was!"

Ich starre sie nieder. „Schweig endlich, du unverschämtes, respektloses Weib! Ich will dich nie wieder sehen, nie wieder! Solltest du noch einmal einen Fuß über die Schwelle meines Hauses setzen oder jemals versuchen, Annalies in irgendeiner Weise nahe zu kommen, dann hat das unangenehme Konsequenzen, verlass dich darauf!"

Ohne sie noch eines Blickes zu würdigen, stürme ich an ihr vorbei. Ich mache mir nun vor allem Sorgen um Esther.


Die GouvernanteWhere stories live. Discover now