Kapitel 35

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Am Abend spielte ich wie gehabt Klavier in der Bar. Auch heute regte mich die sanfte Melodie, die ich zauberte, zum Nachdenken an. Abigail und Finley... Ich weiß, ich hatte in deren Beziehung nichts zu suchen, aber ihre Pläne machten mich nervös - nicht etwa, weil ich etwas dagegen hatte, sondern weil die Dinge, über die sie nachdachten, so alltäglich waren. Und an was dachte ich? An eine psychich gespaltene Persönlichkeit aus dem Meer, an das geheime Leben meiner großen Schwester, die gar nicht meine Schwester war, und an fünf Jugendliche, die in einer Höhle wohnten. Es war alles so viel. Zu viel für meinen Geschmack.

"Hi." Ich zuckte zusammen, als ich bemerkte, dass Dean neben mir Platz genommen hatte. Die nächsten beiden Töne vermasselte ich mächtig, ehe ich mich wieder fing und mich auf die Noten konzentrierte. Dean kicherte vergnügt. "Warum so schreckhaft, Schwesterchen?" Er nahm einen Schluck von seiner Cola und ich widerstand dem Drang, ihn anzuschauen - ich musste mich darauf konzentrieren, nicht noch mehr Töne in den Sand zu setzen. "Ich hatte nicht mit dir gerechnet", sagte ich nüchtern. Dean stellte sein Glas auf der Oberfläche des Flügels ab, ehe er sich wieder an mich wandte. "Ich habe Neuigkeiten für dich." Ich hob neugierig eine Augenbraue. "Tatsächlich?" "Ja." Dean legte seinen Arm um meine Schulter, sodass ich sein Deo riechen konnte. Es roch nach etwas schwerem, süßem, unverkennbar männlichem. Ein bisschen zu hastig brachte ich die letzten beiden Takte des Stückes hinter mich, dann ließ ich das Klavier verstummen. Das Stimmengewirr der Leute schwoll an. "Drei mal darfst du raten", sagte Dean. Inzwischen war auch Jenson aufgetaucht, der sich links neben mir auf den Hocker quetschte und ebenfalls seinen Arm um mich legte. Ich kam mir vor wie in einer Schlinge aus herrlich duftenden Seilen. "Hast du es ihr schon erzählt?", sagte Jenson zu Dean, der nur den Kopf schüttelte. "Sie darf drei Mal raten." "Kommt schon, Leute. Das ist nicht fair", protestierte ich, aber meine Brüder lachten bloß und machten keine Anstalten, die Katze aus dem Sack zu lassen. "Wir haben im Lotto gewonnen?", legte ich willkürlich los. Dean und Jenson warfen sich einen Blick zu, dann schüttelten sie beide den Kopf. Ich blies resigniert die Backen auf - in letzter Zeit hatte ich wirklich genug Rätsel gehabt. "Äh, keine Ahnung." Ich versuchte, mich im Nacken zu kratzen, aber die Arme meiner Brüder versperrten den Weg dorthin. "Komm schon, Holly", sagte Dean und knuffte mich freundschaftlich in die Seite. "Du bist doch so gut im Knobeln. Das hast du eindeutig von Ruby. Ihr habt beide Rätsel geliebt." Mein Hals wurde eng. Ich konnte es nicht von Ruby haben, höchstens von Poppy. Aber ich schwieg und grübelte weiter, was meine Brüder meinen konnten. "Sind es gute oder schlechte Neuigkeiten?", wollte ich schließlich wissen. "Gute", sagten sie beide aus einem Mund. Okay... "Port Isaac wird zerstört?" Heftiges Kopfschütteln von beiden Seiten. "Sie ist doch völlig durch den Wind", sagte Jenson zu Dean. "So bekommt sie es niemals raus. Lassen wir die Katze aus dem Sack." "Na gut", willigte Dean widerstrebend ein. "Holly, Mum und Dad haben uns angeboten, nächste Woche zu Grandma Catherine und Grandpa Harry nach Gloucestershire zu fahren. Die ganze Woche! Carol, Zoey und Daniel werden auch da sein. Ist das nicht cool?" Ich blinzelte, weil ich nicht ganz mitkam. "Wie jetzt?" Ich nahm mir das Glas vom Flügel, ganz gleich, ob es Dean gehörte, und nahm einen großen Schluck. Wir würden wegfahren? Nach Gloucestershire? Die ganze nächste Woche? Gott möge mich davor bewahren! Ich hatte keine Zeit für ein Cousinentreffen bei unseren Großeltern, ich hatte ein riesiges, dreckiges Geheimnis zu lüften! Ich konnte jetzt nicht weg. "Grandpa hat schon ein Cricketfeld aufgesprüht." Jensons scharf geschnittene Wangen glühten vor Begeisterung, aber ich konnte mich der allgemeinen Freude leider nicht anschließen. "Und... und was habt ihr gesagt?", fragte ich atemlos, obwohl ich die Antwort längst kannte. "Wir haben natürlich 'ja' gesagt, was denkst du denn?", lachte Dean direkt in mein Ohr. Ich schloss für drei Sekunden die Augen, in der Hoffnung, beim Öffnen aus einem Traum zu erwachen, doch es war kein Traum. Ich hatte Grandma Catherine und Grandpa Harry sehr gern und Carol und Zoey waren genau mein Alter und hatten einen herrlichen Sinn für Humor, aber das hieß noch lange nicht, dass ich jetzt weg wollte. Jetzt erst recht nicht. Ich weiß, diese Woche in Gloucestershire war wie ein Geschenk von Mum und Dad - immerhin hatten wir eine Woche Urlaub. Und ich muss offen zugeben, auf das Hotel konnte ich gerne sieben Tage verzichten, aber auf den Rest eben nicht. Mir saß die Zeit ohnehin schon im Nacken, weil ich das Ganze bis zum Schulanfang gerne geklärt hätte, und jetzt sollte ich auch noch Pause machen? Jenson und Dean hatten inzwischen auch bemerkt, dass mit mir etwas nicht stimmte. "Freust du dich gar nicht?", fragte Jenson mit gerunzelter Stirn. Ich holte scharf Luft. Ich musste lügen, wenn ich mich nicht verdächtig machen wollte. Alles andere wäre auffällig. Sie mussten unbedingt glauben, dass ich mich genauso freute wie sie. "Doch, klar", log ich, ohne mit der Wimper zu zucken. "Ich wundere mich nur, dass es so plötzlich kam. Normalerweise lassen Mum und Dad uns während der Hochsaison nicht gerne weg." Ich drehte mich zu Jenson um. "Was ist mit deinem Schwimmtraining?" Er zuckte mit den Schultern, während er mit dem Papierschirmchen in seinem Cocktail spielte. "Das kann auch mal eine Woche warten. Ich verpasse auch keinen Wettkampf." "Oh." Das war alles, was mir dazu einfiel. Dean drückte noch einmal meine Schulter, ehe er aufstand und sich durch die Haare fuhr. "Ich muss wieder hinter die Theke. Spiel weiter, Holly. Das hört sich gut an." Er lächelte mir zu und ich lächelte schwach zurück. Jenson erhob sich ebenfalls von dem Hocker. "Na, dann, Kleine. Wir fahren übermorgen. Alles andere klären wir morgen früh mit Mum und Dad." Er zerwuschelte meine Haare, obwohl er genau wusste, dass ich diese Geste hasste, und verschwand dann aus der Bar. Na toll. Übermorgen würde ich weg sein. Das klang ja richtig verlockend.

Königin des MeeresWhere stories live. Discover now