Kapitel 28

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"Du hast gelernt, eine eigene Meinung zu haben. Du hast gelernt, dich durchzusetzen. Aber auch wenn dein Selbstwertgefühl erheblich gestiegen ist, ist es dennoch ausbaufähig. Und: Du wehrst dich zu spät." Die Faust des Wassermädchens sauste mit rasender Geschwindigkeit auf mein Auge zu, aber ich parierte den Schlag keuchend mit meinem Unterarm und tauchter darunter hinweg. Haare klebten in meinem verschwitzten Nacken, Sand scheuerte meine nackten Füße auf. Heute war Donnerstag und das Wassermädchen zum ersten Mal seit der Sache mit meiner Mum wieder bei mir aufgetaucht. Jetzt allerdings nahm sie mich ziemlich hart ran, ohne Rücksicht auf die morgige Party zu nehmen, die mir noch bevorstand. Sie hob den Fuß, aber bevor sie etwas anrichten konnte, machte ich einen Schritt zur Seite. Lachend trat sie ins Leere. Es war ein irres, wildes, ausgelassenes Lachen, und ihre roten Locken flogen wie Flammen durch die Luft. Ich hielt die Luft an. "Du wirst besser", sagte das Wassermädchen nun, dann hörte sie endlich auf zu kämpfen. Völlig außer Atem fächelte ich mir Luft zu, ohne zu antworten. Sie würde schon weiterreden. "Wirklich, du lernst schnell. Dadurch, dass du viel Joggen gehst, hast du echt Ausdauer. Aber wie gesagt, du wehrst dich zu spät. Dafür war Keiths Angriff das beste Beispiel: Du hättest davonkommen können, aber du hast dich schlagen lassen, anstatt selber zu kämpfen." Ihr grüner Blick wurde so intensiv, dass ich mich nicht gewundert hätte, wenn er meinen Kopf durchlöcherte. "Ich kann nicht so gut Menschen schlagen, an denen mir was... - warte mal." Ich stockte. "Du hast zugesehen?" Das Wassermädchen nickte lächelnd, während mir die Kinnlade runterklappte. "Wieso hast du mir nicht geholfen?", rief ich vorwurfsvoll. "Ich helfe dir doch die ganze Zeit!", rief sie ebenso vorwurfsvoll zurück und das brachte mich sehr wirkungsvoll zum Schweigen. Immerhin hatte sie ja recht: Seit sie in mein Leben getreten war, nahm es allmählich Form an und ich entdeckte die Schokoseiten des Alltags. Ohne das Wassermädchen wäre meine Mum wohl immer noch eine lebende Tote, die in uralten Erinnerungen schwelgte, und ohne sie wäre ich auf Abigails Party womöglich zerbrochen. So aber fühlte ich mich wohl in meiner eigenen Haut. Trotzdem... "Du hättest eingreifen sollen", sagte ich, aber in versöhnlicherem Ton. "Hab ich." Das Wassermädchen verschränkte die Arme vor der Brust und blitzte mich herausfordernd an. Ich starrte zu Boden. "Aber nicht, als ich verprügelt wurde." "Ich habe dich gewarnt, Holly. Die ganze Zeit habe ich dich auf so etwas vorbereitet und dir immer prophezeit, dass etwas in dieser Art eintreten würde. Du wusstest also, dass etwas auf dich zukam. Du kannst mich also nicht für deine Kidnappung verantwortlich machen, nur weil ich gerade zufällig in der Nähe war und dir nicht gleich zur Hilfe geeilt bin." Auch wieder wahr. Auf einmal hatte ich ein schlechtes Gewissen, dass ich das Wassermädchen so an den Kragen gegangen war. "Tut mir leid", murmelte ich zerknirscht und da lächelte sie plötzlich. Sie fuhr sich über den schwarzen Kampfanzug, den wir beide zur Feier des Tages trugen und zwitscherte:"Schon vergessen." Schließlich baute sie sich breitbeinig vor mir auf. "Hast du denn wenigstens nun verstanden, dass du schneller handeln musst? Wie gesagt, du  musst diejenige sein, die angreift, denn das schüchtert den echten Angreifer vorerst ganz schön ein. Glaub mir, ich spreche aus Erfahrung", fügte sie halbherzig und schroff hinzu. Ich zögerte kurz. "Aber soll ich in jedem, der mich anspricht, einen potentiellen Feind sehen und ihm eins auf's Maul geben?", schloss ich ungläubig. Das Wassermädchen stöhnte auf. "Natürlich nicht, Holly! Oder schlägst du deine Oma sofort, wenn sie dir einen Teller Kekse bringt? Spatzenhirn... Hör zu, je nachdem wie die Situation aussieht, realisierst du recht schnell, wer Feind und wer Freund ist." Ihre Stimme wurde immer ernster. Ich dachte an Keiths unerwarteten Angriff und schauderte. "Und wenn ich von hinten angegriffen werde?" "Dann verteidigst du dich. Denk dran, möglichst auf den Beinen bleiben. Wenn du stehst, bist du nicht annähernd so verletzlich wie auf dem Boden. Aber falls du fallen solltest, musst du drauf achten, dass du mit den Füßen zum Gegner liegst, ist das klar?" Ich nickte kleinlaut, aber Antworten brauchte ich trotzdem noch mehr. Ich biss mir auf die Unterlippe und strich mir das Haar hinters Ohr. "Und wenn es mehrere sind?", piepste ich dann. Das Wassermädchen rollte schmunzelnd die Augen. "Das sind aber ganz schön viele 'Wenns'! Aber gut. Na ja, wenn es mehrere sind, wehr dich einfach so gut es geht. Es kommt immer auf die Technik an. Wenn du mit Köpfchen arbeitest, klappt es tausend mal besser, als wenn du einfach drauf los trampelst. Aber wenn es wirklich, wirklich ernst um dich stehen sollte, bin ich nie weit. Du darfst nur das Schreien nicht vergessen." Sie zwinkerte mir zu, nur um sich kurz danach in den Sand zu setzen. Ich tat es ihr gleich. "Okay. Aber du bist doch nicht immer in meiner Nähe. Was, wenn ich in einer Tiefgarage von zehn Maskierten mit Waffen...-" Bevor ich ganz aussprechen konnte, hatte das Wassermädchen mir schon mit einer Geste das Wort abgeschnitten. "Vertrau mir, Holly. Ich bin dir jeden Tag näher, als du denkst." An der Stelle lächelte sie mich lieb an und mir wurde ganz warm ums Herz. Zögernd fügte sie hinzu:"Jetzt, wo deine Schwester nicht auf dich Acht geben kann, sollte ich das tun, so gut ich kann. Dir darf nichts passieren." Ich schluckte schwer. Nach ein paar Minuten des Schweigens wisperte ich:"Lass uns bitte nicht über Ruby sprechen." Das Wassermädchen griff meine Hand. "Okay."

*

Freitagabend, 18:30: Ich hatte immer noch kein passendes Kleid, und das trotz meiner zwei treuen Helfer: Mum und Dean. Mum, weil sie meine Mum war, auch nach der Auszeit und weil wir eine Menge nachzuholen hattem. Und Dean war schon auf so vielen Dates und Partys gewesen, dass er einfach wusste, was an Mädchen gut aussah, oder nicht. Das hautenge, schwarze T-Shirt-Kleid tat das anscheinend nicht, denn mein Bruder verzog das Gesicht. "Andere sehen darin aus wie eine Pellwurst. Du allerdings siehst aus wie ein Skelett", sagte er unvermittelt. Und das komische war: Ich konnte darüber lachen, denn schließlich hatte er recht. Was ich brauchte, war ein partytaugliches Kleid, das mir mehr Fülle gab, als ich hatte. Und das war ziemlich schwer: Auf meinem Bett türmten sich bereits ein rosa Tüllmonster, ein Jeanskleid, eine Top-Rock-Kombi, ein schwarz-weiß gestreiftes Kleid, das aber so kurz wie ein Unterhemd war, und ein silbernes Mini-Kleid, das Mum mir geborgt hatte. Allerdings sah ich darin aus wie ein Schulmädchen, das sich als Popstar verkleidete...

Mum steckte bereits in meinem Einbauschrank. "Wie wäre es damit?", fragte sie schließlich und hielt einen himmelblauen Fetzen in die Höhe. Ich wollte es ihr abnehmen, aber Dean kam mir zuvor. Mit einer schnellen Handbewegung hatte er es gegrapscht und auseinander gefaltet. "Ach du Scheiße." Das himmelblaue Kleid hatte einen großen Minnie-Mouse-Sticker auf der Brust und musste aus Kindergartenzeiten stammen. Wie hatte es so lange in meinem Schrank überlebt? Normalerweise fiel es mir nur allzu leicht, mich von Klamotten zu trennen, aber an dieses Stück konnte ich mich nicht einmal erinnern. Ich beantwortete Deans fragenden Blick mit einem Schulterzucken und er warf das Kleid in die Ecke. So schnell ging das. Mum kam keuchend aus meinem Schrank empor und wischte sich den Schweiß von der Stirn. "Darin bekommt man echt keine Luft." "Lass mich mal." Dean schob sie sanft zur Seite, ehe er ebenfalls abtauchte. Mum musste wohl sehen, wie jämmerlich ich mich fühlte, denn sie lächelte mir aufmunternd zu. "Was tut ihr?", tönte es vom Türrahmen. Es war Jenson, der vom Schwimmtraining Heim kam. Seine Haare glänzten nass und er roch nach seiner typischen Mischung aus Chlor und Deo. "Wir probieren Kleider an", erklärte ich mit einem matten Lächeln. "Weil...?" Jenson hob eine Augenbraue. "...Ich gleich auf Abigails Party gehe", beendete ich seinen Satz. Ich hatte zwar öfter drüber gesprochen, aber Jenson war zu vergesslich, als dass man es ihm verübeln konnte, wenn er 'Kleinigkeiten' wie diese nicht behielt. "Cool." Jenson warf seinen Rucksack auf den Boden und schmiss sich dann rücksichtslos auf mein Bett. "Hey!", protestierte ich, auch wenn ich nicht wirklich böse war. Dafür war ich viel zu glücklich über die lockere, muntere Stimmung in meinem Raum. "Seht mal, was ich gefunden habe", murmelte Dean aus meinem Schrank, ehe er mit Wollmäusen im Haar und einem riesigen Karton wieder auftauchte. Mum nahm die Kiste neugierig an sich. "Was ist das?" Dean zuckte die Achseln. "Keine Ahnung." Gemeinsam hievten sie den Karton auf mein Bett und betrachteten den Pappdeckel, auf den etwas mit schwarzem Edding geschrieben war. Zwei Wörter, die ich von meinem Standort aus nicht entziffern konnte. "Ruby Klamotten", las Jenson laut vor. Mir entfuhr ein Schreckenslaut. Die Kiste hatte ich ganz vergessen! Ich fürchtete, Mum würde wieder 'rückfällig' werden, doch zuckte sie bloß die Achseln. Mit Schwung schlug sie den Deckel auf, sodass die Staubpartikel nur so schwirrten. Ich hielt die Luft an. "Soll ich etwa Rubys alte Kleider anziehen?", fragte ich tonlos. So simpel es klang, für mich schien es auf seltsame Weise... verboten, das zu tun. Mum war da wohl anderer Meinung, lässig zuckte sie erneut die Schultern. "Wozu hat man große Schwestern?" 

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Ein neues Kapitel. Danke für fast 220.000 Lektüren, das ist echt krass! *0* Ich liebe euch! ♥♥♥
Und jetzt ganz kräftig voten und Kommentieren! Was meint ihr, zieht Holly eins von Rubys Kleidern an?  Und wie sieht es wohl aus? Was passiert auf der Party?
Bis zum nächsten Kapitel! ♥

Königin des MeeresKde žijí příběhy. Začni objevovat