Kapitel 22

9.1K 450 20
                                    

Ich schnappte nach Luft. Es war ganz offensichtlich, dass Vic und Lilith das Wassermädchen für Ruby hielten, und deswegen sah ich es als meine Aufgabe, sie von diesem Irrglauben abzubringen. "Hey", krächzte ich in die Stille hinein, "das ist ein Missver" Lilith unterbrach mich mit einem Kreischen. "Ich dachte, du wärst tot!" Sie krallte sich an Vic, der ganz grün im Gesicht wurde. "Das ist nicht sie", fuhr ich dazwischen, aber keiner beachtete mich. Das Wassermädchen legte Keith auf den kaltfeuchten Boden, ignorierte Vic und Lilith und kam auf mich zu. "Was machst du nur für Sachen?", sagte sie kopfschüttelnd, ehe sie sich zu mir hinunterbeugte. Erst dachte ich, sie wolle mich küssen, aber dann liebkoste ihr Mund meine Handgelenke. Mir blieb das Herz stehen, als ich das salzige Kribbeln dort spürte, wo ihre Lippen meine Haut berührten. Dann, mit einer Bewegung, die zu schnell für meine Augen war, biss sie das Tau durch, das mich fesselte. Innerhalb von Sekunden war ich befreit. Ich keuchte, unfähig, meine Lippen zu bewegen. "Danke", stammelte ich schließlich. Vic und Lilith sahen uns mit großen Augen an. "Ihr kennt euch?" Das Wassermädchen wischte sich die Hände an ihren porzellanweißen Beinen ab. "Kann man so sagen." Lilith sah nun mich an, Vorwurf im Blick. "Du hättest uns ruhig sagen können, dass Ruby noch lebt." Ich rang verzweifelt die Hände. "Aber das hier ist  nicht Ruby, das ist..." Ich geriet ins Stocken. Was sollte ich sagen? Dass ich den Namen nicht wusste? Zu unglaubwürdig. Lilith zog misstrauisch eine Augenbraue in die Höhe. "Das ist das Wassermädchen", brachte ich gepresst hervor. Das Wassermädchen legte einen Arm um meine Taille, als spürte sie, dass meine Beine nachgaben. Lilith klappte den Mund auf und wieder zu, während Vic an der grauen Wand hinunterrutschte. In dem Moment erschien Poppy am Höhleneingang, das blaue Kleid klebte an ihrem Körper, die Haare waren nass. "Habt ihr Keith ge-" Ihre Stimme brach ab, als sie ihn auf dem Boden liegen sah. Ihr Blick schweifte zu mir und dem Mädchen, das mich im Arm hielt. Mit einem Schrei prallte sie an die Wand. "Es ist nicht Ruby", sagte Lilith mit zittriger Stimme und ging auf sie zu. "Ist er tot?" Poppy deutete auf Keith; in ihren Augen standen Tränen. "Nein, bloß bewusstlos", sagte das Wassermädchen kühl. "Ihr könnt Nathan zurückholen", setzte ich hinzu. Inzwischen fühlten sich meine Beine sicherer an, doch in meinem Magen klaffte ein Loch und meine Kehle brannte wie Feuer. Auf meiner Zunge war ein rauer, trockener Fleck, der einfach nicht feucht werden wollte. Ich schwankte und der Griff des Wassermädchens wurde fester, ihre Lippen formten einen schmalen Strich. "Wäre Holly nicht so krank, würde ich ein wenig Zeit verschwenden und euch fertig machen", zischte sie wütend. Ich tätschelte ihren Arm, teils beruhigend, teils dankbar. "Mir geht es gut." "Nein", entgegnete sie scharf und schüttelte ihre Lockenpracht. Vic atmete schwer, Poppy, die neben Keith kniete, sah das Wassermädchen ängstlich an und Lilith baute sich vor dem Höhleneingang auf. "Du bist Ruby", sagte sie mit fester Stimme. Ich schloss die Augen und schluckte schwer, das alles wurde zu viel für mich. Das Wassermädchen lachte verächtlich auf. "Geh da weg, Lilith, wir haben es eilig." Ihre Hand drückte sachte meinen Rücken, während sie mich leise führte. Lilith schrie leise auf. "Du kennst meinen Namen?" "Sie kennt nicht nur deinen Namen", erwiderte ich trocken. Lilith wich vom Höhleneingang zurück, die großen schönen Augen zu Schlitzen verengt. "Hast du ihr irgendwas erzählt?", fragte sie und es dauerte, bis ich begriff, dass sie mich meinte. Bevor ich antworten konnte, kreischte das Wassermädchen:"Lass sie in Ruhe, Lilith! Ihr seid ihr einiges schuldig, nach allem, was ihr bei euch zugestoßen ist!" Sie bugsierte mich beinahe liebevoll aus der Höhle hinaus. Und dann sah ich nichts außer der wundervoll hellen Sonne. Ich stöhnte erleichtert auf. So mussten sich Mienenarbeiter fühlen, wenn sie abends aus dem Stollen kamen. Die Luft war drückend heiß und ich war sofort von einem Mückenschwarm umgeben, aber das war mir egal. "Wie spät ist es?", krächzte ich blinzelnd. Das Wassermädchen hob mich hoch und joggte los. "Gegen Mittag", sagte sie leise. Ich rechnete nach. "Dann war ich 24 Stunden gefangen." Am Strand kreischten Möwen, die sich um einen toten Fisch stritten. Ich streckte mich mit geschlossenen Augen und sog die salzige Luft ein. Ich war frei. "Deine Mutter kommt um vor Sorge", erläuterte das Wassermädchen und verzog das Gesicht. "Oh", machte ich mit weinerlicher Stimme. "Wie soll ich das nur gerade biegen?" "Ich mach das", antwortete sie wie aus der Pistole geschossen. Dann hob sie ab und wir flogen über einen Felsspalt. Ich kniff die Augen zu und krallte mich in ihr rosa Top. Das Wassermädchen lachte leise. "Besser nicht", keuchte ich, als wir wieder festen Boden unter den Füßen hatten. "Warum?" Ich biss mir auf die Lippe. "Du siehst wirklich aus wie Ruby. Ich möchte nicht, dass Mum sich erschreckt." "Es ist mir egal, wie deine Mum sich fühlt", entgegnete sie scharf. "Und dich sollte es auch nicht intetessieren. Sie fällt dir ständig in den Rücken." Ich schluckte schwer. "Sie ist meine Mum." "Ich werde mit ihr reden", sagte das Wassermädchen in einem Ton, der keinen Widerspruch akzeptierte. Na wunderbar. Dann nahm ich nichts mehr wahr außer der rasenden Geschwindigkeit, mit der sie über die Felsen flog. Der Wind peitschte mein Gesicht und als ich versuchte, die vorbei rauschende Landschaft zu betrachten, wurde mir schwindelig. Ich schluckte die säuerliche Substanz hinunter, die meinen Hals empor kroch. Mein Magen rebellierte. "Wie machst du das?", stieß ich keuchend hervor. "Erinnerst du dich an dein erstes Kampftraining?", fragte sie mit so ruhiger Stimme, als würde sie still sitzen. Ich verzog das Gesicht, an diesen Abend erinnerte ich mich nur zu gut. "Ja." Sie nickte bestätigend. "Damals hab ich gesagt, ich sei nicht so wie du. Vielleicht beantwortet das deine Frage." Inzwischen rannte sie über die Wiese, in der das Becken eingelassen war, in dem Jensons Wettbewerb stattgefunden hatte. "Aber wie bist du denn?", fragte ich leise. Das Wassermädchen schüttelte den Kopf, sie schien verärgert. Ihre Miene war hart, als sie zischte:"Was soll die Fragerei?" Ihre Bosheit versetzte mir einen Stich. So war das also. Kaum war ich befreit, konnte sie mich wieder herablassend und fies behandeln? Ich schnalzte mit der Zunge, zu schwach, um wütend zu sein. In meinem Kopf drehte sich alles. "Die Freundlichkeit stand dir besser." Mehr als ein Flüstern brachte ich nicht mehr zustande. Das Wassermädchen lachte keckernd auf. Die Laute erinnerten mich an den Delfin, der sie damals gerufen hatte. Ihre Andersartigkeit musste etwas mit dem Meer zu tun haben, aber was?  Mein Kopf schmerzte, als ich versuchte, mich zu konzentrieren, also ließ ich es bleiben und stellte mich lieber darauf ein, dass Mum gleich mit dem Krankenwagen abgeholt werden musste. Ohnmächtig, weil ein Mädchen bei ihr auftauchte, das zweifellos ihre Tochter sein könnte.

*********************

Es ist nur ein Übergangskapitel, aber wenigstens ist Holly jetzt frei.. :) Was sagt ihr? ♥♥

Königin des MeeresWhere stories live. Discover now