Kapitel 15

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"Mr. Smitherson, ich kann morgen nicht mit Ihnen nach Cardiff fahren." Ungeduldig wippte ich auf den Zehenspitzen auf und ab. "Aber der Absender kommt daher!", beharrte der alte Mann und bedachte mich mit einem flehenden Blick. Seufzend ließ ich meinen Blick über das Fenster schweifen. Unwillkürlich musste ich daran denken, dass das Wassermädchen dort irgendwo auf mich wartete - und würde ich nicht bald kommen, würde sie mich holen, so viel stand fest. Mr. Smitherson legte seine knochige, kleine Hand auf meine Schulter. "Ich kenne den Absender nicht, aber die Briefe klangen vertraut, als ob eine gute Freundin sie geschrieben hätte." Ich verdrehte die Augen. "Von wann sind diese Briefe?" Er senkte den Blick, aber mir fiel trotzdem auf, dass er rot anlief, was verriet, dass die Daten auf den Umschlägen wohl kaum aus diesem Jahrhundert stammten. "Na sehen Sie", seufzte ich. Als ich bemerkte, wie genervt ich klang, starrte ich beschämt auf meine Fußspitzen. Ich sollte nicht so mit ihm reden! Ich musste verstehen, dass er wissen wollte, wer das Grab seiner Bethany bepflanzte, zumal es mich ja selber interessierte. Trotzdem - ich musste los. Zwar würde ich mein Kampftraining allerliebst verschieben, aber anscheinend schien es notwendig, wenn es sogar das Wassermädchen beunruhigte. "Der Absender könnte überall sein", sagte ich, freundlich lächelnd. "Vielleicht ist er oder sie schon längst umgezogen. Was dann? Dann wäre die ganze Fahrt umsonst." Mr. Smitherson legte den Kopf schief, während er unruhig auf seiner Unterlippe kaute. Ein gutes Zeichen, wie ich fand. Immerhin schien er über meine Worte nachzudenken. Ich packte die Gelegenheit beim Schopf und redete weiter auf ihn ein. "Suchen Sie lieber vor Ort nach dem heimlichen Friedhofbesucher. Von mir aus fahre ich noch mal mit Ihnen nach Port Isaac - irgendwann müssen die Blumen ja gegossen werden. Gehen Sie die Sache in Ruhe an. Wir werden sicher fündig." Jetzt war ich diejenige, die ihm die Hand auf die Schulter legte. Mr. Smitherson seufzte widerwillig. "Na gut", sagte er. "Du hast Recht. Danke für das Angebot mit Port Isaac, ich denke, das ist eine gute Idee..." Er redete noch weiter, aber etwas rotes, vorbeihuschendes erntete meine vollkommene Aufmerksamkeit. Ich kniff die Augen zusammen und starrte hinaus in die Dunkelheit. Hatte ich mich getäuscht, oder war das Wassermädchen wirklich vorbeigerannt? Und wenn ja - was machte sie so nah am Hotel? Sie konnte jederzeit entdeckt werden! Obwohl das ja auch der Fall war, wenn sie nackt schwimmen ging. "Holly?" Ich zuckte zusammen. "Entschuldigen Sie", murmelte ich kopfschüttelnd. "Können Sie das noch mal wiederholen?" Mr. Smitherson lächelte schwach. "Ich sagte, wir könnten vielleicht am Sonntag nach Port Isaac." "Klar, können wir machen", sagte ich monoton und abgelenkt, da ich bereits erneut aus dem Fenster starrte. Sie wollte, dass ich kam, sie hatte es eilig. Ich zog den Kopf ein und sah auf zu Mr. Smitherson, dann stutzte ich. "Warten Sie. Sagten Sie Sonntag?" Er nickte. "Mensch, Holly, was bist du denn heute so fahrig?" Ich überging diese Bemerkung mit einem Lächeln. "Am Sonntag fahren die Busse nicht, tut mir leid. Machen wir das wann anders." Draußen zischte es; mein Magen zog sich zusammen. "Ich muss jetzt los", sagte ich knapp und drückte ihm, ohne zu zögern, einen Kuss auf die Wange. "Du hast übrigens vergessen, dass ich für dich Matthew bin!", rief er mir hinterher, woraufhin ich mir ein Lachen abrang und ihm zuwinkte. Ich tat, als ginge ich ganz gelassen auf mein Zimmer, aber in Wirklichkeit wollte ich am liebsten rennen. Aber natürlich würde dann sofort jedem auffallen, dass etwas nicht stimmte. Als ich dann jedoch im Privatteil angekommen war, beschleunigte ich meine Schritte. Zu allem Überfluss kam mir Jenson auch noch entgegen. "Hey." Er sah auf mich herab. Seit er mich von meinen neuen Freunden abgeholt hatte und mich hat auffliegen lassen, hatten wir kein Wort mehr gewechselt. "Hey." Kindisch wie ich war, mied ich es, ihn anzuschauen. Ich wartete, dass er etwas sagte, doch er schwieg. "Tolles Gespräch, Jenson, das muss man dir lassen. Du hast echte Redner-Qualitäten", zischte ich und drückte schon die Klinke zu meinem Zimmer hinunter, als er nach meinem Arm griff. "Es tut mir leid", sagte er leise. "Ja, mir auch. Dank dir habe ich drei Wochen Hausarrest." Die Information, dass ich dieses Verbot bereits gebrochen hatte, ließ ich unter den Tisch fallen. Jenson blickte mir eindringlich in die Augen. "Holly, ich wollte dich beschützen. Ich wusste nicht, dass Mum und Dad so reagieren." Ich schwieg, hielt aber dennoch Blickkontakt. Dann verzog ich das Gesicht zu einem traurigen Lächeln. "Hinterher ist man immer schlauer, was?" "Es tut mir leid", sagte er erneut und diesmal konnte ich ihm verzeihen. Es war mir bewusst, dass er niemals die Absicht gehabt hatte, mir eine Strafe unterzujubeln. "Schon okay. Mach dir keinen Kopf." Ich knuffte ihm in die Seite, dann verschwand ich in mein Zimmer. Auf meinem Bett saß das Wassermädchen und blätterte seelenruhig durch eine Zeitschrift. Sie merkte, dass ich eingetreten war, aber sie begrüßte mich nicht. "Aaaar!" Ich schnappte nach Luft. "Hi." Sie sah immer noch nicht auf. "Hallo", keuchte ich, während der Schreck noch immer in meinen Gliedern steckte. "Wie bist du reingekommen?" Ich strich meine Haare glatt und atmete tief durch. "Wir müssen los", sagte das Wassermädchen und legte die Zeitschrift auf mein Nachtschränkchen. "Wie bist du reingekommen?", fragte ich erneut, schärfer dieses Mal. Sie griff neben das Bett und warf mir ein Bündel zu. "Hab ich dir mitgebracht." Ich drückte die Kleider an meine Brust und machte einen Schritt auf sie zu. "Ich habe dir eine Frage gestellt!" Sie sah mich an, als wäre ich geisteskrank. "Und ich werde sie nicht beantworten. Los, zieh das an." Ihr Unterton ließ keine Wiederworte zu. Als ihr seltsamer Geruch in meine Nase stieg, rümpfte ich sie. Ich mochte ihn nicht und doch passte er zu ihr. Es war komisch. Schweigend schlüpfte ich aus meinem Kleid und streifte die Klamotten über, die sie mitgebracht hatte. Es war eine schwarze, eng anliegende Hose aus elastischem Stoff, ein dunkles Top und eine dunkelgraue Kapuzenjacke. Die Sachen rochen nach Heimat, nach Geborgenheit und da fiel mir auf, dass sie ehemals Ruby gehört hatte

Ich erschauderte. Hoffentlich hatte ich mich nur getäuscht!

*

Ich fühlte mich unwohl. Diese schwarzen, eng anliegenden Kleider betonten meinen klapprigen Körper und waren das Gegenteil von dem, was ich bisher getragen hatten. Dass das Wassermädchen um mich herumlief und mich hochkonzentriert musterte, machte es nicht gerade besser. Schweigend senkte ich den Blick, dann vergrub ich meine Zehenspitzen im Sand. Es schienen Stunden der Stille zu verstreichen, bevor sie wieder redete. "Du hast keine Muskeln. Gar keine. Okay, du hast muskulöse Waden vom vielen Joggen, aber ansonsten bist du ein Niemand." Ich zog die Ärmel der Kapuzenjacke über meine Hände und schniefte. Mir war bewusst, dass ich nicht gerade die stärkste war, aber so direkt hatte noch nie jemand mit mir geredet, was wahrscheinlich daran lag, dass die Leute dachten, ich sei zu zerbrechlich, um die Wahrheit zu erfahren. Aber dem Wassermädchen war es egal, was ich bei ihren Worten dachte; sie scherte sich nicht um meine Gefühle. Es war ihr egal, wer ich war. Zum einen tat es gut, zum anderen bedrückte es mich. "Und du hast null Selbstbewusstsein", sagte sie nach einer Weile. Mir lag ein Protest auf der Zunge, doch sie hatte Recht. Ich war schwach und keines Weges selbstbewusst. Man konnte mich tatsächlich als 'Niemand' bezeichnen. Da war die süße Tochter des Hotelbesitzers, die die Zimmer so schön herrichtete, die freundlich und immer wieder strahlend Führungen durch das Hotel machte. Aber wer war ich, Holly? Ich hatte keine Persönlichkeit, keine Ausstrahlung. "Ich weiß", murmelte ich. Ich atmete zittrig ein, während ich zu ihr aufsah. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, aber ich konnte bei der Dunkelheit nicht feststellen, ob es grimmig oder spöttisch war. Womöglich eine Mischung aus beidem. "Dabei bist du so schön", sagte sie. Ihre Worte klangen würzig, rauchig durch die Nacht und tanzten durch meinen Kopf wie eine jubelnde Melodie. Ich konnte nicht anders, ich musste lächeln. "Danke." Mit einem Kompliment hatte ich nicht gerechnet, und das wusste sie auch. "Und du bist schnell", fuhr sie fort. "Du bist sportlich, du bist nett und sympathisch, du wirkst vollkommen friedlich. Da, wo ich herkomme, würde man es langweilig nennen. Hier gibt es für deine Art das Wort 'süß'." Beim letzten Wort verzog sie das Gesicht. Ein Windstoß hob ihre Locken an, sodass ihre unfassbare Perfektion, diese vollkommene Schönheit mich in geballter Form traf und sie auf mich wirkte wie eine Illision. Aber sie stand vor mir, Fleisch und Blut. "Du sprudelst nicht, du bist zu eintönig. Und Mädchen wie du sind sehr leichte Opfer", hauchte sie. "Opfer von was?", platzte es aus mir heraus. Sie zögerte keine Sekunde. "Opfer von Vergewaltigung, Entführung. Opfer von Unterdrückung. Von Mord." Beim letzten Wort wurde mir schlecht. Meinte sie das mit der Gefahr, in der ich schwebte? Gab es da jemanden, der mich umbringen wollte? Aber wer sollte diese Absicht haben? Und warum zum Teufel, sollte sie  das wissen?

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Ihr wisst ja, dass ich mich über Votes und Kommis freue, nicht wahr? ♥

Königin des MeeresWhere stories live. Discover now