Kapitel 42

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Als ich am nächsten Morgen aufwachte, kam mir die Welt so unwirklich vor. Alles nahm ich überdeutlich intensiv war: Die Sonne, die durch meine dünnen Vorhänge schien und goldenen Glitzer in meinem ganzen Zimmer verteilte, das beruhigende, geheimnisvolle Flüstern der Wellen, das Kreisch-Konzert der Möwen, die sich gegenseitig über den wolkenlosen Himmel jagten, und das Klappern der Töpfe in der Küche.

Ich streckte mich, strampelte die Decke zur Seite und richtete mich langsam auf, jeden Augenblick genießend. Mein Körper fühlte sich erfrischend anders an, belebter. Ob das an dem Kuss mit Keith lag? Oh Gott. Ich schlug mir beide Hände vors Gesicht, doch ein dämliches Grinsen konnte ich mir trotzdem nicht verkneifen. Ich hatte ihn wirklich geküsst. So richtig mit Zunge und allem drum und dran, in einer schäbigen Höhle, in der meine tote Schwester ihr Leben verewigt hat. War das barbarisch? Ich wusste es nicht. Ich wusste es nicht und es ärgerte mich, dass ich trotz allem so beschwingt und... glücklich war, nur weil ein Junge mich geküsst hatte. Schließlich hatte ich allen Grund, genau diese Unbeschwertheit eben nicht zu fühlen: Ein seltsames Duplikat meiner Schwester tanzte durch mein Leben und hatte mir Kampftraining gegeben, ich war in einer sperrigen Höhle von einem Fremden gefangen gehalten worden, mit dem ich nun gestern Nacht wild rumgeknutscht hatte, meine beste Freundin glaubte, schwanger zu sein und in Port Isaac, dem Ort, wo Ruby begraben lag, passierten schreckliche Dinge, von denen keiner wusste.

Und trotzdem: Die gemeinsame Nacht mit Keith hatte mir neue Energie gegeben.

Was nicht hieß, dass ich nun aufhören würde. Ja, ich hatte mir geschworen, das Geheimnis um den Tod meiner Schwester zu lüften, und genau das würde ich auch tun. Genau jetzt. Schließlich hatte ich genau das zu Keith gesagt: Dass wir heute weitersuchen mussten, wenn wir es gestern schon zu nichts gebracht hatten.

Ich schwang beide Füße über den Bettrand, nahm mir ein paar Klamotten aus dem Schrank und ging ins Bad. Nach einer schnellen Dusche machte ich mich auf den Weg in die Küche, wo ich mir einen Apfel aus der Obstschale schnappte, um sogleich zur Tür zu wirbeln. "Wo willst du denn schon wieder hin?", fragte Mum, die Orangensaft presste, verblüfft. Die Uhr über ihrem Kopf zeigte kurz vor zehn Uhr an. Viel zu spät. "Ich gehe zum Strand", sagte ich mit einer ungewohnt fröhlichen, hüpfenden Stimme. Mein beschwingter Tonfall schien auch Mum neu zu sein, denn sie zog fragend eine Augenbraue in die Höhe.
Auf ihre Erlaubnis wartend verhartze ich im Türrahmen, bis Mum seufzend abwinkte. "Geh halt." Sie warf einen müden Blick auf die Uhr. "Sei nur bis Mittag zurück, bitte. Abigail hat eben angerufen; sie möchte ihren Wellness-Gutschein einlösen, den du ihr zum Geburtstag geschenkt hast. Sie sagt, ihr hättet etwas ganz Besonderes abgesprochen?" Ich starrte Mum eine Weile lang verständnlos an und schloss die Augen, als mir klar wurde, wovon sie sprach. Der Schwangerschaftstest. Auch das noch. Nicht zu fassen, dass ich vergessen hatte, Abigail gestern eingeladen zu haben. "Ja", sagte ich mit einem knappen Nicken. "Ist das ganz... Spezielles." "Solange es den Rahmen einer gewöhnlichen Behandlung nicht sprengt, ist alles okay", sagte Mum bestimmt, den frischen Orangensaft in eine Glaskaraffe schüttend. Sofort wurde sie von zwei hartnäckigen Fliegen umringt, die sie gar nicht wahrzunehmen schien. "Unser Hotel zahlt schließlich dafür. Also übertreibt es nicht." "Nein, Mum." Langsam wurde ich ungeduldig. Ich musste los. Ich wartete noch einige Augenblicke, doch meine Mutter hatte nichts mehr zu sagen, also machte ich mich lieber aus dem Staub, bevor sie es sich anders überlegte.

Mein Rad lehnte noch immer draußen an der Hauswand, unverschlossen und unversehrt. Ohne zu zögern, schwang ich mich auf den von der Sonne erhitzten Sattel und radelte los, den Apfel ungelenk beim Fahren essend.
Ich fuhr am Pier entlang, der von mit bunten Handtüchern und Sonnenschirmen bepackten Touristen nur so wimmelte. Es war, als kamen sie aus allen Ecken des Landes gekrochen, um die letzten heißen Tage der Ferien und des Sommers an der wunderschönen Küste Cornwalls zu verbringen. Ein Eisverkäufer schrie seine Angebote über den überfüllten Strand und ein mittelalter Mann in tropfenden Badehosen rief genervt nach seinem Hund, der mitsamt Leine auf zwei Kinder bei einer Sandburg zujagte. Der starke, wenn auch heiße Wind wehte eine neonpinke, verloren gegangene Luftmatratze über das Meer, weg von diesem Ort, mit ungewissem Ziel.
Doch all das war so weit weg von mir. All das bewegte mich nicht. Meine Gedanken kreisten wild um zwei immer gleiche Themen: Ruby und Keith. Ich wollte mich vollends auf meine Schwester konzentrieren, doch wann immer ich an die Höhle mit ihren Geheimnissen dachte, tauchte automatisch der Kuss mit Keith vor meinem inneren Auge auf. Wenn ich nur starl genug daram dachte, konnte ich ihn sogar schmecken, den Geschmack nach Leidenschaft, Ungewissheit und purer Freiheit. Unwillkürlich wurde mir leicht und selig ums Herz und meine Gedanken entspannten sich.

Königin des MeeresOn viuen les histories. Descobreix ara