Kapitel 9

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Als ich das Wassermädchen beim Joggen das erste Mal gesehen hatte, war da dieses Gefühl in meinem Hals gewesen. Dieses Gefühl zu ersticken. Dasselbe hatte ich jetzt, als ich durch die Tür ins Innere des Hauses trat. Mein Herz hämmerte gegen meinen Brustkorb und der Angstschweiß rannte meinen Rücken hinunter. Du bist nur eine Glaswand vom Strand entfernt,  sprach ich mir zu, um nicht völlig auszurasten. Doch es brachte nichts. Ich wollte hier weg, all mein Mut war der unmittelbaren Angst vor diesem fremden Mädchen gewichen. Was wenn sie mich um den Finger gewickelt hatte und gar nicht mir reden, sondern meine Kehle mit einem Messer durchtrennen wollte. Vielleicht war sie Auftragskillerin und sollte mich aus der Welt schaffen, warum auch immer. Sei nicht albern!,  sagte mein Kopf und mir blieb nichts anderes übrig, als es über mich ergehen zu lassen. Das Mädchen sah ja auch nicht aus wie eine Auftragskillerin. Wozu also die Sorgen?

"Du zitterst", stellte sie fest, als sie ihren Arm um meine Schulter legte. Erstaunlicherweise war es einfach mit ihr zu reden. Die Worte sprangen mir förmlich aus dem Mund. "Könnte an dir liegen." Ich spürte ihren intensiven Blick von der Seite und blickte starr aus dem Fenster. Hinter der Glasfront rollten die schäumenden Wellen auf den weißen Sand zu. Dieser Anblick beruhigte mich und brachte mich auf den Boden der Tatsachen zurück. Sie konnte mir nichts anhaben. Sie war viel zu freundlich. "Gut", zwitscherte sie weiter, "setz dich und fühl dich einfach wie zu Hause. Ich hole dir kurz eine Limonade." Ich ließ meinen Blick flüchtig über ihren nackten Körper gleiten. "Könntest du dir bitte auch was anziehen?", fragte ich mit hochrotem Kopf. Ihr Gesichtsausdruck wurde unergründlich. "Warum" - sie zog das Wort in die Länge - "sollte ich das tun?" Als ihre grünen Augen in meinen hängen blieben, richtete ich den Blick wieder auf das Fenster. "Es ist etwas irritierend für mich", gestand ich leise. "Ich werde sehen, was ich tun kann." Mit den Worten wand sie mir den Rücken zu und stieg eine Treppe hinab, ich schätzte, sie hatte dort einen Keller. Nachdem sie verschwunden war, atmete ich einmal tief durch, ehe ich mir den Raum, in dem ich mich befand, umsah. Da! Da in der Ecke war der Flügel, den Mrs Hatcherson erwähnt hatte. Schneeweiß. Ich musste schlucken. Welch schönes Bild das ergeben würde - ein blutgetränktes, hageres Mädchen in Sport BH und Sport Shorts, mitten auf einem weißen Flügel. Unsinn! Ich rang die Hände, als wolle ich den Gedanken vertreiben. Schließlich ging ich zu dem weißen Ledersofa und ließ mich darauf nieder. Und dort saß ich, kerzengerade, die Fingernägel in die Handinnenflächen gekrallt, die Füße in Position, bereit, bei Gefahr aufzuspringen und davonzuflüchten. Als das Wassermädchen plötzlich vor mir stand, zuckte ich zusammen. Ich hatte nicht gehört, wie sie die Treppe herauf gekommen war... Eine Weile betrachtete sie mich mit schief gelegtem Kopf. "Du bist schreckhaft wie ein Kaninchen", meinte sie dann, was ich mit einem erstickten Auflachen quittierte. Aber wenigstens hatte sie sich etwas angezogen, doch als ich sah, was sie trug, hätte ich am liebsten laut aufgeschrien. Es war das rosa Hemdchen, das Ruby getragen hatte, als sie verschwunden war, kombiniert mit dem kurzen Jeansrock. "Hier." Sie hielt mir eine Flasche Limonade hin, doch diese entgegenzunehmen, würde bedeuten, dass ich die Hände auseinandernehmen musste und das schien mir unmöglich. Seufzend stellte sie die Flasche schließlich auf dem Boden ab. "Was ist los mit dir?", fragte sie vorwurfsvoll, während sie neben mir auf die Couch sank. Ich presste die Lippen aufeinander und sah sie an. "Wie schaust du überhaupt aus? Du bist so ausgemergelt", fuhr sie fort. "Ich, ähm..." Ich war nicht imstande, in ganzen Sätzen zu sprechen und ich wollte auch nicht. Was ich allerdings sehr wohl wollte, waren Erklärungen. "Wer bist du?", platzte ich heraus. "Und was tust du hier? Oder was tue ich hier?" Sie grinste schelmisch. "Du besuchst mich." "Wer bist du?", wiederholte ich. Keine Antwort. "Sag mir, wer du bist, sonst gehe ich wieder!", schrie ich sie an, während ich mit den Tränen kämpfte. Und ich gewann. Sie blieben zurück. "Hör auf, mich so anzuschreien", sagte sie verzerrt. Ihr Ausdruck war mit einem Mal so hart, dass ich erschrocken die Hand vor den Mund hob. "Tut mir leid!" "Schon okay", winkte sie ab. "Und jetzt trink - bevor du mir vollkommen abdrehst." Schweigend nahm ich die Limomade vom Boden und ließ die prickelnde, perlende Flüssigkeit meine Kehle hinunterrinnen. Sie schmeckte sauer. "Trink mehr", befahl das Wassermädchen und ich nahm weitere Schlucke, bis die Flasche halb leer war. Danach ging es mir tatsächlich besser. "Sagst du mir jetzt, wer du bist?", fragte ich und nahm die Limonade von der einen Hand in die andere. "Nein", sagte sie. Das Wort war kurz und klar. Ein Nein, das man nicht hinterfragte, nein, ich nahm es einfach hin. "Warum bin ich dann hier?", bohrte ich weiter. "Weil ich dich eingeladen habe." Ich verdrehte die Augen. "Warum hast du das getan?" Sie strich sich eine rote Strähne hinters Ohr und sah mich eindringlich an. "Ich will sehen, ob man dir vertrauen kann." "Was will mir jemand anvertrauen, dessen Namen ich nicht einmal kenne?", gab ich zurück. "Die Wahrheit." Schon wieder so klar. Mein Blick wanderte zu ihren dünnen, strichartigen Augenbrauen, zu den langen, dunklen Wimpern. Die Wahrheit. Wollte ich sie überhaupt wissen? Oder wollte ich lieber abschließen mit diesem Mädchen, und sie nach diesem Besuch hinter mir lassen? "Worüber willst du dann reden?", hakte ich nach. "Über dich." "Und was, wenn ich dir nicht verraten will, wer ich bin?" "Ich weiß wer du bist", sagte sie und fletschte die Zähne. "Ich will es nur noch mal von dir hören. Die Dinge auf den aktuellen Stand bringen." Sie machte mir Angst. Ihr Verhalten war so undurchschaubar, so unverhersehbar, dass sie irgendwie gefährlich wirkte. Ein Unbehagen beschlich mich, denn ich wollte nicht über mich reden. Einerseits, weil mein Leben so eintönig war, andererseits, weil ich mich nicht öffnen wollte. "Was willst du hören?", lenkte ich trotz alledem ein. Sie räkelte sich auf dem Sofa, nahm mir die Limonade aus der Hand und trank sie in einem Zug aus. Anschließend schwenkte sie die Flasche. "Wie ist deine Mum so?" Das meine ich mit undurchschaubar. Welcher normale Mensch fragt nach der Mutter? Aber ich fand es verblüffenderweise gut, mich endlich auszulassen. "Seit meine Schwester ertrunken ist, ist sie keine Mutter mehr. Sie ist ein Gespenst. Und ich bin ihr egal; wir alle sind ihr egal. Meine Brüder Jenson und Dean und ich. Manchmal geht sie ins Wohnzimmer, schließt sich ein und starrt auf das Meer. All ihre Trauer lädt sie auf uns ab. Sie ist einfach kalt." "Deine Schwester ist ertrunken?", fragte das Mädchen leise und erstickt. Sie wirkte ehrlich bedrückt. "Ja." Ich nickte und kämpfte erneut mit den Tränen. "Sie fehlt mir sehr." Sie sah mich an, das Mitleid stand ihr ins Gesicht geschrieben. Dann verengten sich ihre Augen zu schmalen Schlitzen und mit einem mal erinnerte sie mich an eine Schlange, die ihre Beute fixierte. "Mum lässt dich hängen", zischte sie. Es war komisch, dass sie über meine Mum sprach, als wäre es ihre eigene. "Ich kann mit ihr reden, wenn du willst." "Nein!", rief ich erschrocken. "Ich meine, bitte nicht. Sie ist doch so hilflos." "Aber sie muss sich um dich kümmern! Sie ist deine Mutter!" "Ja, und es ist mein Problem, nicht deins", entgegnete ich patzig und verschränkte die Arme vor der Brust. Meine Mutter - mein Problem.

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Heeey! Also erst mal sorry, dass ihr so lange warten musstet und dann natürlich DANKESCHÖN FÜR ÜBER 10.000 LESER! ★★ Oh Gott, das ist so krass! ♥ Danke Danke!!! *0* Bitte kommentieren ♡♥

Königin des MeeresWhere stories live. Discover now