Kapitel 7

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Heute war einer dieser Tage, an denen Abigail außergewöhnlich früh auf den Beinen war. Schon um neun Uhr morgens kam sie in die Lobby gerannt, in unfassbar kurzen Shorts und einer rosa Bluse. Die braunen Haare lagen offen über ihrer Schulter und ihre Augen blitzten vor Aufregung, als sie mich sah. "Hey, Holly! Was machst du?" Sie winkte mir freudig zu und kam auf mich zugeeilt. Ich deutete auf den Stapel Handtücher in meinem Arm. "Das war doch jetzt wohl eine rein rhetorische Frage, oder?", kicherte ich. "Wie cool, gehen wir in den Wellnessbereich?", fragte Abigail begeistert. Das war es, was ich an ihr mochte. Für sie war alles selbstverständlich, sie bezog sich in alle Dinge direkt ein, sodass ich wenig tun brauchte, um Zeit mit ihr zu verbringen. Sie kam, wann es ihr passte, sie meldete sich nicht an. Ich nickte zur Antwort und drückte ungelenk auf den Knopf des Aufzuges. Abigail nahm mir die Handtücher aus der Hand und strahlte mich an. "Wir müssen reden." "Worüber?", wollte ich wissen, während sich der Aufzug unter leisem Zischen öffnete. Abigail hopste hinein und schüttelte ihre Haarpracht. "Holly, wir haben uns ewig nicht gesehen!" "Ja, ganze zwei Tage", spottete ich, woraufhin sie die Augen verdrehte. "Du weißt doch wie ich bin. Ich hab immer etwas zu erzählen, aber um zum Punkt zu kommen -" Der Aufzug war im Keller angekommen und öffnete sich mit demselben Zischen wie vor wenigen Sekunden. "Um zum Punkt zu kommen, ich habe schon etwas bestimmtes zu besprechen", endete sie. "Das ist bei dir 'auf den Punkt kommen'?", fragte ich lachend. Abigail zog einen Schmollmund. "Natürlich nicht", beeilte sie sich zu sagen. "Aber nun gut. Erste Sache: Party." Ich nahm ihr die Handtücher aus dem Arm und begann, sie in die Regale zu legen. "Mensch Abigail, die Party ist in zwei Wochen!", tat ich das Thema ab. Dass ich jetzt schon aufgeregt deswegen war, verschwieg ich lieber. Es gab eben auch Dinge, in denen selbst Abigail nervte uns eins davon war, dass sie einen wochenlang mit einer Sache aufziehen konnte. "Hallo?", entfuhr es ihr empört, während sie die Hände in die Hüften stemmte. "Diese Party ist mega wichtig!" Kichernd verdrehte ich die Augen. "Was liegt dir denn auf dem Herzen?" "Mein nicht existierendes Outfit", seufzte Abigail theatralisch. Ich prustete los. "Du hast einen ganzen Ankleideraum voll atemberaubend schöner Klamotten! Du wirst schon was passendes finden", beschwichtigte ich sie. "Nun gut, du hast vielleicht recht, aber..." Sie druckste etwas herum. Fragend sah ich zu ihr auf. "Aber was?" "Ich mache mir auch etwas Sorgen um dich und dein Outfit." Sie entließ die angehaltene Luft aus ihrem Mund und sah mich mit gekräuselten Augenbrauen an. "Um mein Outfit?", wiederholte ich ungläubig. Ich wusste nicht, ob ich weinen oder lachen sollte. "Ja. Wenn du wieder dein weißes Sommerkleid trägst", sie deutete an mir herunter, "dann wird das ziemlich unpassend aussehen und du wirst womöglich die ganze Nacht allein über die Tanzfläche huschen." Ich verschränkte die Arme vor der Brust. "Wer mich in diesem Kleid lamgweilig findet, der hat mich zum Tanzen auch nicht verdient", entgegnete ich wütend. "Ach Holly, du verstehst das falsch!", sagte Abigail verzweifelt. "Aber es ist nun mal eine Party und kein normaler Ferientag. Meinst du nicht, es würde dir mal gut tun, auch Kontakt zu anderen Leuten außer mir aufzubauen?" Ich hasste sie dafür. Ich hasste sie dafür, dass sie verdammt nochmal genau ins Schwarze traf. Verzweifelt ließ ich die Arme hängen. "Niemand wird mich antasten, Abigail, selbst in der schönsten Abendmode nicht! Und weißt du warum? Weil ich abschreckend aussehe! Ich habe die Figur einer Hundehütte: vollkommen unförmig und noch dazu in jeder Ecke ein Knochen." Abigail sah mich erst erschrocken, dann mitleidig an. "Ach, Süße", murmelte sie, während sie mich in eine Umarmung zog. "Du hast auch nicht mehr Knochen als andere Menschen. Du hast bloß das große Glück, dass sie nicht von einer Rolle Speck umgeben sind." Ich atmete ihren typischen Abigail-Geruch ein. Zitrone. Sie roch immer nach Zitrone, und das, obwohl sie ein Deo benutzte, das angeblich nach Schokolade riechen sollte. "Okay, du hast gewonnen", brummte ich gespielt wiederwillig. "Ich ziehe ausnahmsweise etwas anderes an." "Du bist ein Schatz!" Ehe ich mich versah, hatte sie mir einen Kuss auf die Stirn geschmatzt. "Und jetzt zu einem anderen, nicht ganz unwichtigen Punkt: Wassermädchen." Ich blinzelte überrascht. "Hast du sie noch mal gesehen?", fragte Abigail aufgeregt, doch ich musste sie mit einem Kopfschütteln enttäuschen. "Ich dachte, du wolltest sie besuchen?", sagte sie vorwurfsvoll. "Es hat sich noch nicht ergeben", murmelte ich entschuldigend, während ich zu meinen Fußspitzen sah. Doch Abigail schien mir das nicht abzunehmen. "Holly Spencer! Hast du etwa kalte Füße bekommen?" Ich schwieg. "Hallo! Ich rede mit dir!" Schweigen. "Ich fass es nicht!", rief sie aus, ehe sie die Hände rang. "Wir hatten doch besprochen, dass du sie wiedertriffst!" "Aber ich fürchte mich vor ihr!", jammerte ich. "Außerdem weiß ich nicht einmal, wo sie wohnt." Abigail bedachte mich mit einem strengen Blick. "Mädchen, sag nicht, dass du nicht weißt, dass du nur zum Meer gehen brauchst, um sie zu finden. Und du weißt bestimmt auch nicht, dass sie längst auf dich wartet." Die Ironie in ihrer Stimme war nicht zu überhören. "Du spinnst doch", murmelte ich, doch sie blickte herausfordernd auf mich herab. Und selbst so sah sie noch verführerisch aus. Wie schaffte sie es nur, in jeder Situation blenden auszusehen? "Gut, ich sagte ja, ich fürchte mich vor ihr." "Und deswegen wartest du, bis sie ungeduldig wird und dir auflauert?", stöhnte sie. Ich legte den Kopf schief. "Ich will sie treffen, aber ich will sie nicht wiedersehen müssen." Abigail's Miene wurde nachdenklich. "Sie erinnert dich zu sehr an Ruby, nicht?", sagte sie leise. Mehr als ein zittriges Nicken bekam ich nicht mehr hin, ehe ich an der rauen Steinwand hinunterrutschte. Abigail ging vor mir in die Hocke. "Du musst  über deinen Schatten springen, Holly." Ihre Augen hielten eindringlich an meinen fest. Benommen atmete ich einige Male tief ein und aus und versuchte, Kontrolle über mich zu gewinnen. "Okay", sagte ich langsam. Schon im nächsten Moment beschlich mich die leise Ahnung, dass ich mit dieser Einwilligung mehr ins Rollen gebracht hatte als bloß ein Treffen mit dem geheimnisvollen Wassermädchen.

Königin des MeeresWhere stories live. Discover now