Kapitel 24

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"Jetzt brauch ich einen Schnaps." Mum's Hände zitterten zwar immer noch, aber ihr Gesicht hatte seine Farbe wiedergefunden. Ich nickte verkrampft und lehnte mich an den Türrahmen, weil mir plötzlich schwarz vor Augen wurde. "Ich brauch Wasser", stieß ich hustend hervor, ehe ich mich abstieß und in die Küche wankte. Jenson, der am Tisch saß, sprang sofort auf, um mich zu halten. "Dean!", schrie er, "Dad! Sie ist wieder da!" Er schaute mit leuchtenden Augen auf mich herab. Sein Arm, der mich hielt, war warm und stark. Mehr brauchte ich nicht, um mich wohl zu fühlen. "Alles gut?", fragte Jenson und geleitete mich zur Spüle. Nickend nahm ich ein Glas aus dem Schrank, füllte es mit Wasser auf und stürzte es herunter. Ich trank so hastig, dass mir ein paar Tropfen über das Kinn rannten, aber das war egal. Ich füllte ein weiteres Glas und schüttete eins nach dem anderen in mich hinein. Dann, als ich mich an den Küchentisch setzte, hörte ich ächzende, eilige Schritte auf den Holzdielen. Kurz darauf wurde die Tür vom Wohnzimmer so heftig aufgestoßen, dass sie dumpf gegen die Wand knallte. Ein Luftzug ließ die feinen Haare an meiner Schläfe aufwirbeln. "Holly, oh mein Gott! Da bist du ja!" Dean umrundete den Tisch so schnell wie ich blinzeln konnte, um mich dann stürmisch zu umarmen. Dad, der ebenfalls hereintrat, atmete erleichtert auf. "So ein seltsames Mädchen hat sie hier abgesetzt", erklärte Mum, während sie ein winziges Gläschen und eine Flasche Obstler hervorholte. Schließlich setzte sie sich neben mich und gönnte sich schweigend einen Schluck Schnaps. Dad stand nun ebenfalls hinter mir, beide Hände auf meinen Schultern ruhend. Dean und Jenson waren links und rechts von mir in die Hocke gegangen, um mir besser ins Gesicht schauen zu können. "Wo warst du?", wollte Dad wissen. Er klang nicht streng oder fordernd, sondern sanft, froh darüber, mich endlich bei sich zu haben. Ich war so gerührt, solch eine nette Familie zu besitzen, dass mir die Tränen kamen. In letzter Zeit hatte ich vergessen, wie sehr ich sie alle liebte, Mum eingeschlossen, aber nun wurde ich mir dessen wieder bewusst. Ein warmes Gefühl bereitete sich in meinem Bauch aus, so sehr, dass es mich beinahe von innen erstickte. Ich stieß einen Schwall Luft aus, während Mum ein weiteres Gläschen Obstler trank. "Sie war bei diesem Mädchen", antwortete sie an meiner Stelle und starrte mit glasigen Augen in die Luft. Sie wirkte traumatisiert, aber irgendwie auch... wach. Als hätte sie eben erst gemerkt, dass sie weiterlebte, dass sis nicht mit Ruby gestorben war, sondern hier war, bei uns. Vielleicht spürte sie in diesem Moment genau wie ich, dass sie ihre Kinder doch liebte. Dass sie eine Mutter war. Noch dazu beeindruckte es mich, dass sie kein Sterbenswörtchen über die Drohungen des Wassermädchens verlor. Nicht einmal die Ähnlichkeit mit Ruby hatte sie erwähnt. "Welches Mädchen?", fragte Dean und runzelte die Stirn. "Von diesen Komischen?",fügte Dad hinzu. Ich zuckte zusammen. Die Komischen... Ich wusste genau, dass er von Poppy und den anderen sprach. Ob er und Mum wussten, dass die Babys im Krankenhaus vertauscht worden waren? Ich hatte nicht die leiseste Ahnung. "Kennt ihr nicht", sagte ich gepresst. Obwohl ich die Wahrheit sprach, fühlte es sich an wie eine schreckliche Lüge. "Wie heißt sie denn?" Jenson legte seine große Hand auf mein Bein. "Kate", sagte ich schnell und mir schoss das Blut in den Kopf. Keiner schien die Lüge zu bemerken. "Kate...", wiederholte Dean mit konzentrierter Miene. "Die Kate aus Bristol, die hier zwei Wochen Urlaub macht?" "Ich kenne keine Kate aus Bristol", entgegnete ich und stützte den Kopf auf meine Hände. Als ich auf Mums Hände starrte, fiel mir auf, dass sie die Schnapsflasche so fest umklammerte, dass die Knöchel weiß hervortraten. Sie schüttelte den Kopf. "Es ist egal, wo sie war." "Warum das denn?", fragte Dad entgeistert. Er nahm die Hände von meinen Schultern und legte sie mir aus mir unerfindlichen Gründen auf's Haar. "Weil sie wieder da ist, deswegen." Mum schob den Schnaps von sich weg, als wüsste sie nicht, wie sie ihn hatte trinken können.  "Was hast du dir dabei gedacht?", fragte Dean mit weicher Stimme. "Weiß nicht." Ich hob die Schultern. "Du hättest uns wenigstens anrufen können." Jenson kratzte sich am Kopf, er sah nun erschöpft aus und nicht mehr überglücklich, mich wieder zu haben. "Mein Handy ist doch kaputt", räumte ich ein, während ich mich langsam erhob. "Und ich würde jetzt gerne schlafen." Mum begleitete mich zu meinem Zimmer. "Es tut mir leid", hauchte sie, bevor ich die Tür schließen konnte und weil ihre Augen schon in Tränen schwammen, beugte ich mich vor und küsste sie auf die Wange. Ohne irgendetwas zu sagen verschwand ich schließlich auf mein Zimmer.

*

"Oh mein Gott, Holly! Ist dir bewusst, was dir alles hätte passieren können?", brach es aus Abigail hervor, nachdem ich geendet hatte. Sie kam sofort zu mir, als sie erfahren hatte, dass ich wieder da war und es mir gutging. Auch sie hatte sich schreckliche Sorgen gemacht, weswegen sie gleich bei mir übernachtete, um unsere verlorene Zeit aufzuholen. Sie war die einzige, der ich die Wahrheit anvertraute und es sprudelte alles nur so aus mir hervor. Ich lächelte schwach und griff in ihr volles, braunes Haar. "Ich weiß", sagte ich leise. Inzwischen war es halbeins, aber an Schlaf war nicht zu denken, obgleich ich totmüde war. Mum hatte schweigend hingenommen, dass Abigail bei uns schlief, während Dad es für eine schlechte Idee hielt. Aber Mum hatte ihn beschwichtigt und uns aufgetragen, uns gut auszuschlafen. Dieses Angebot nahmen wir natürlich gerne an. "Warum hat Keith dich entführt?", fragte Abigail, die wohl nicht ganz mit kam. "Ihr seid doch Freunde." Ich griff in die Gummibärchentüte auf meiner Decke und kaute gedankenverloren auf der Süßigkeit. "Er wollte nicht, dass irgendwer erfährt, was er getan hat. Immerhin gilt er als vermisst und einfach von zuhause abzuhauen, ist nicht gerade eine Glanzleistung. Wenn ich mich nicht recht entsinne, wohnen die fünf dort sogar illegal. Er hatte Angst, dass ich sie auffliegen lasse, schätze ich." Als ich über meine Worte nachdachte, spürte ich, dass sie der Wahrheit entsprachen. Keith hatte mich nicht etwa aus Wut oder Hass entführt, sondern es aus Verzweiflung, ja Panik heraus getan. Er hasste seine Vergangenheit und wollte vor ihr davon laufen, und dann kam ich und wühlte alles auf. Noch dazu wusste er nicht, ob er mir vertrauen konnte. "Aber was hat es ihm gebracht, dich zu entführen? Jetzt hast du immerhin erst recht einen Grund, zur Polizei zu gehen", sagte Abigail und sah mich an. Ich seufzte resigniert. "Hey, es war nicht in seinem Sinne, dass ich heute schon frei komme. Das alles habe ich dem Wassermädchen zu verdanken." Abigail nickte lange. "Stimmt. Was glaubst du, was er mit dir angestellt hätte, wenn sie nicht eingegriffen hätte?", fragte sie dann rau. Ich wusste sofort, worauf sie hinauswollte und bei der Vorstellung stellten sich meine Nackenhaare auf. "Ich denke nicht, dass er mich umgebracht hätte." Ich bemühte mich um eine feste Stimme. "Vielmehr hätte er mich mit irgendwas zum schweigen gezwungen." "Du meinst, er hätte dir gedroht?", schloss Abigail und schüttelte sich. Ich zuckte die Achseln. "Möglicherweise." Ich sah auf meine Uhr. Zwanzig vor eins. Ein weiterer Gummibär verschwand in meinem Mund, während Abigail sich in ihre Decke rollte. "Macht dir das denn überhaupt nichts aus?", wollte sie wissen. Sie klang, als ... bewunderte sie mich. Nicht dass sie einen Grund gehabt hätte, aber es hörte sich so an. Verblüfft irgendwie, ungläubig, irre. "Was soll ich denn tun?", sagte ich und rang die Hände. Abigail schüttelte ihr Haar. "Nein, das meine ich nicht. Aber fühlst du nicht nicht irgendwie... keine Ahnung. Fürchtest du dich gar nicht?" "Wovor?", entgegnete ich gleichgültig. Ich hatte nicht im geringsten Angst, im Gegenteil: Am liebsten würde ich jetzt sofort mit Keith reden, um die Sache zu klären. Ich fühlte mich ruhig, keineswegs aufgewühlt. Ich war zuhause und ich lebte, mehr zählte im Moment nicht. "Du magst ihn." Abigail schürzte die Lippen. Ich lachte laut los und presste mir eine Hand vor den Mund, damit ich leise blieb, aber meine Freundin verzog keine Miene. Sie meinte es ernst. "Wenn du ihn nicht mögen würdest, würdest du dir das nicht gefallen lassen. Aber du spielst es einfach herunter, also magst du ihn. Zumindest willst du Keith beschützen." "Inwiefern?", hakte ich nach, denn ihr Ton machte mich nervös. Es war, als müsste ich mir etwas eingestehen, das ich mir nicht eingestehen wollte. "Indem zu vergisst. Indem du schweigst und nichts, gar nichts tust, um dich irgendwie zu rächen", sagte Abigail mit fester Stimme. Ich schluckte schwer. "Rachen sind kindisch", gab ich zurück. Sie schwieg, aber sie lächelte wissend. Sie kannte mich zu gut, als dass ich meine Gefühle vor ihr verbergen könnte. Schließlich legte Abigail eine Hand auf mein Bein. "Lass uns nicht weiter drüber reden. Aber eins sag ich dir: Du hast einen guten Draht zu Menschen und bist sehr feinfühlig. Und wenn du so etwas für ihn tust, muss der Kerl es Wert sein." Sie erwähnte seine Tat mit keiner Silbe, sondern sprach ehrlich und liebevoll. Sie wollte so sehr, dass es mir gutging, dass sie ihre Wut auf Keith einfach runterschluckte, damit sie mir nicht im Weg stand. Ich streckte die Arme aus und zog sie in eine Umarmung. Ihr frischer Zitronenduft stieg in meine Nase und ihr Haar schmiegte sich seidig an meine Wange. Zärtlich streichelte sie über meinen Rücken und es war, als würden wir uns stumm unterhalten. 'Danke', sagte ich und sie antwortete mit einem 'Selbstverständlich'. Manchmal sagten keine Worte mehr aus als gesprochene Sätze. Und das war auch gut so, denn für diesen Abend hatte ich genug geredet.

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Morgen fängt bei mir die Schule an. :-/ Ich werde trotzdem regelmäßig updaten, die können mich da alle mal. ♥
Also, wie fandet ihr das Kapitel? :) (Auch, wenn nicht wirklich viel passiert ist.) Meinungen in den Kommis! ♥♥♥

Königin des MeeresWhere stories live. Discover now